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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gesuubor Menschenverstand.

suchen, obwohl der Dichter uns bei Wagner selbst behilflich ist. Sehr wunder¬
lich und bezeichnend für eine heute beliebte Methode, das Verständnis der dich¬
terischen Werke zu suchen, ist die Ableitung Marthas von der Amme in Romeo
und Julia. Die letztere ist eine Cynikerin von Beruf, deren Geschwätz die
Umgebung duldet. Martha bewegt sich im Geleise der ehrbaren Bürgersfrau,
ihr Entgegenkommen gegen die Künste des Mephistopheles beruht auf einer
Sucht nach Befriedigung der Eitelkeit und Sinnlichkeit, wie sie beschränkten
Naturen häufig eigen, aber nicht bewußt ist.




Gesunder Menschenverstand.

er von den Menschen nur gesunden Menschenverstand fordert,
macht dem Anschein nach sehr geringe Ansprüche an sie; aber
jeder Tag lehrt hundertfach, daß gerade diese Forderung äußerst
selten erfüllt wird, also Wohl sehr schwer zu erfüllen sein muß --
in der Gegenwart mindestens. Ich bestelle mir beim Schneider
einen Winterrock: der gesunde Menschenverstand muß dem Manne sagen, daß
ich ein bequemes, mich gegen die Unbilden der Witterung schützendes Kleid zu
haben wünsche; er aber meint, darauf komme es nicht an, sondern darauf, daß
der Rock so unbequem und unzweckmäßig sei, wie das neueste Modejourucil es
verlangt. Ich lasse mir ein Haus bauen: der gesunde Menschenverstand setzt
voraus, daß das Gebäude meinen Bedürfnissen, den Bedingungen der Gesundheit
und Behaglichkeit angepaßt werde; der Architekt aber entwirft zuerst eine schöne
Fassade und opfert dieser die angemessene Verteilung der Räume, das Licht,
die Ventilation, die Wohnlichkeit. Ich lese in der "Ledernen Trompete," daß
Fürst Bismarck ganz insgeheim über einem schwarzen Plan gegen die Volks¬
freiheit brüte: der gesunde Menschenverstand folgert, daß der Kanzler wohl zu
allerletzt dem Redakteur der "Trompete" seine Geheimnisse anvertrauen werde;
die meisten Leser aber rufen voll Bewunderung aus, der Mosessohn sei doch
ein verteufelt schlauer Patron, und wenn er nicht über uns wachte, so wären
wir unrettbar verloren. Und in diesen Ruf stimmen nicht bloß Gevatter Schneider
und Handschuhmacher ein, die nicht wissen, wie eine Zeitung gemacht wird und
welche soziale Stellung Herr Mosessohn einnimmt, sondern Hochgebildete, die
in jene Verhältnisse Einblick haben. Ein bescheidener Mann sucht bei einem
Kaufmann um kurzen Kredit an und wird abgewiesen; gleich darauf fährt ein


Gesuubor Menschenverstand.

suchen, obwohl der Dichter uns bei Wagner selbst behilflich ist. Sehr wunder¬
lich und bezeichnend für eine heute beliebte Methode, das Verständnis der dich¬
terischen Werke zu suchen, ist die Ableitung Marthas von der Amme in Romeo
und Julia. Die letztere ist eine Cynikerin von Beruf, deren Geschwätz die
Umgebung duldet. Martha bewegt sich im Geleise der ehrbaren Bürgersfrau,
ihr Entgegenkommen gegen die Künste des Mephistopheles beruht auf einer
Sucht nach Befriedigung der Eitelkeit und Sinnlichkeit, wie sie beschränkten
Naturen häufig eigen, aber nicht bewußt ist.




Gesunder Menschenverstand.

er von den Menschen nur gesunden Menschenverstand fordert,
macht dem Anschein nach sehr geringe Ansprüche an sie; aber
jeder Tag lehrt hundertfach, daß gerade diese Forderung äußerst
selten erfüllt wird, also Wohl sehr schwer zu erfüllen sein muß —
in der Gegenwart mindestens. Ich bestelle mir beim Schneider
einen Winterrock: der gesunde Menschenverstand muß dem Manne sagen, daß
ich ein bequemes, mich gegen die Unbilden der Witterung schützendes Kleid zu
haben wünsche; er aber meint, darauf komme es nicht an, sondern darauf, daß
der Rock so unbequem und unzweckmäßig sei, wie das neueste Modejourucil es
verlangt. Ich lasse mir ein Haus bauen: der gesunde Menschenverstand setzt
voraus, daß das Gebäude meinen Bedürfnissen, den Bedingungen der Gesundheit
und Behaglichkeit angepaßt werde; der Architekt aber entwirft zuerst eine schöne
Fassade und opfert dieser die angemessene Verteilung der Räume, das Licht,
die Ventilation, die Wohnlichkeit. Ich lese in der „Ledernen Trompete," daß
Fürst Bismarck ganz insgeheim über einem schwarzen Plan gegen die Volks¬
freiheit brüte: der gesunde Menschenverstand folgert, daß der Kanzler wohl zu
allerletzt dem Redakteur der „Trompete" seine Geheimnisse anvertrauen werde;
die meisten Leser aber rufen voll Bewunderung aus, der Mosessohn sei doch
ein verteufelt schlauer Patron, und wenn er nicht über uns wachte, so wären
wir unrettbar verloren. Und in diesen Ruf stimmen nicht bloß Gevatter Schneider
und Handschuhmacher ein, die nicht wissen, wie eine Zeitung gemacht wird und
welche soziale Stellung Herr Mosessohn einnimmt, sondern Hochgebildete, die
in jene Verhältnisse Einblick haben. Ein bescheidener Mann sucht bei einem
Kaufmann um kurzen Kredit an und wird abgewiesen; gleich darauf fährt ein


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[0512] Gesuubor Menschenverstand. suchen, obwohl der Dichter uns bei Wagner selbst behilflich ist. Sehr wunder¬ lich und bezeichnend für eine heute beliebte Methode, das Verständnis der dich¬ terischen Werke zu suchen, ist die Ableitung Marthas von der Amme in Romeo und Julia. Die letztere ist eine Cynikerin von Beruf, deren Geschwätz die Umgebung duldet. Martha bewegt sich im Geleise der ehrbaren Bürgersfrau, ihr Entgegenkommen gegen die Künste des Mephistopheles beruht auf einer Sucht nach Befriedigung der Eitelkeit und Sinnlichkeit, wie sie beschränkten Naturen häufig eigen, aber nicht bewußt ist. Gesunder Menschenverstand. er von den Menschen nur gesunden Menschenverstand fordert, macht dem Anschein nach sehr geringe Ansprüche an sie; aber jeder Tag lehrt hundertfach, daß gerade diese Forderung äußerst selten erfüllt wird, also Wohl sehr schwer zu erfüllen sein muß — in der Gegenwart mindestens. Ich bestelle mir beim Schneider einen Winterrock: der gesunde Menschenverstand muß dem Manne sagen, daß ich ein bequemes, mich gegen die Unbilden der Witterung schützendes Kleid zu haben wünsche; er aber meint, darauf komme es nicht an, sondern darauf, daß der Rock so unbequem und unzweckmäßig sei, wie das neueste Modejourucil es verlangt. Ich lasse mir ein Haus bauen: der gesunde Menschenverstand setzt voraus, daß das Gebäude meinen Bedürfnissen, den Bedingungen der Gesundheit und Behaglichkeit angepaßt werde; der Architekt aber entwirft zuerst eine schöne Fassade und opfert dieser die angemessene Verteilung der Räume, das Licht, die Ventilation, die Wohnlichkeit. Ich lese in der „Ledernen Trompete," daß Fürst Bismarck ganz insgeheim über einem schwarzen Plan gegen die Volks¬ freiheit brüte: der gesunde Menschenverstand folgert, daß der Kanzler wohl zu allerletzt dem Redakteur der „Trompete" seine Geheimnisse anvertrauen werde; die meisten Leser aber rufen voll Bewunderung aus, der Mosessohn sei doch ein verteufelt schlauer Patron, und wenn er nicht über uns wachte, so wären wir unrettbar verloren. Und in diesen Ruf stimmen nicht bloß Gevatter Schneider und Handschuhmacher ein, die nicht wissen, wie eine Zeitung gemacht wird und welche soziale Stellung Herr Mosessohn einnimmt, sondern Hochgebildete, die in jene Verhältnisse Einblick haben. Ein bescheidener Mann sucht bei einem Kaufmann um kurzen Kredit an und wird abgewiesen; gleich darauf fährt ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/512>, abgerufen am 13.11.2024.