Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Entstehung des Faust.
von Konstantin Rößler.
^. Die erste Gestalt. ^769-^775.
Die Themen.

as erste Thema des ersten Faust ist das Ungenügen, die Ver¬
zweiflung des nach lebendiger Erkenntnis dürstenden Geistes über
die toten Massen des traditionellen Wissens, die jene" Durst
nicht stillen, ihm nicht einmal die kleinste Ladung reichen. Mit
jenem Durst hatte sich der jugendliche Geist des Dichters nach
der Genesung von der ersten schweren Krankheit in die mannichfaltigsten Studien
gestürzt. Das Resultat dieser Studien war nach der eigenen in Dichtung und
Wahrheit gegebenen Aussage der Gemütszustand, wie ihn die erste" Szenen des
Faust schildern. In die Verurteilung des Wissens als eiuer Quelle, die nur
glitzert, aber nicht erquickt, ist die Masse der toten Erkenntnis eingeschlossen,
aber nicht der Versuch, durch die Scheinkunst praktischer Eingriffe in die Natur
die Schranken des natürlichen Wissens zu erweitern, auf halbübernatürliche
Weise in der Alchymie, und nur durch übernatürliche Mittel in der Magie,
nämlich durch den teils eingebildeten, teils unvollkommenen Verkehr mit höheren,
aber keineswegs bösen Geistern.

Bleiben wir noch bei diesem Thema stehen. Die Wahrheit des Pathos
und die beispiellos ungesuchte Gewalt desselben haben dem Ausdruck des Themas
eine bis zur Sprichwörtlichkeit gehende Popularität verschafft, die umso merk¬
würdiger ist, als das Thema an sich schwer zu fassen und bis heute sehr selten
verstanden worden ist. Zu der mit höchster Ursprünglichkeit hervorsprudelnden
Kraft des Pathos tritt allerdings ein besonders anziehendes Element in der
wunderbaren Schönheit der Farbe, welche dem mittelalterlichen Zustande der
Wissenschaft, wo dieselbe eine ganz esoterische, vom Leben abgekehrte Beschäf¬
tigung war, mit einer staunenswerten Macht der Phantasie entnommen ist.
Wenn durch alles dieses der Eindruck dieser Szenen ein mächtiger von jeher
gewesen ist, so sind sie andrerseits in ihrem Kerne, wie gesagt, fast nie ver¬
standen worden. Das Beste hat der wohlmeinende Eifer der philosophischen
Kommentatoren gethan. Den Offenbarungen des Genius gegenüber ist zu viel
des gesuchten Tiefsinus besser als zu wenig. Heute freilich sind wir bei dem
zu wenig angelangt. Die platte Aberweisheit der "Jetztzeit," der eingebildetsten
und selbstgefälligsten Epoche, die je die Sonne beschienen, ruft dem verzweifelten
Faust zu: mit seinem vielen Lernen sei es wohl nichts gewesen, er hätte hübsch


Die Entstehung des Faust.
von Konstantin Rößler.
^. Die erste Gestalt. ^769-^775.
Die Themen.

as erste Thema des ersten Faust ist das Ungenügen, die Ver¬
zweiflung des nach lebendiger Erkenntnis dürstenden Geistes über
die toten Massen des traditionellen Wissens, die jene» Durst
nicht stillen, ihm nicht einmal die kleinste Ladung reichen. Mit
jenem Durst hatte sich der jugendliche Geist des Dichters nach
der Genesung von der ersten schweren Krankheit in die mannichfaltigsten Studien
gestürzt. Das Resultat dieser Studien war nach der eigenen in Dichtung und
Wahrheit gegebenen Aussage der Gemütszustand, wie ihn die erste» Szenen des
Faust schildern. In die Verurteilung des Wissens als eiuer Quelle, die nur
glitzert, aber nicht erquickt, ist die Masse der toten Erkenntnis eingeschlossen,
aber nicht der Versuch, durch die Scheinkunst praktischer Eingriffe in die Natur
die Schranken des natürlichen Wissens zu erweitern, auf halbübernatürliche
Weise in der Alchymie, und nur durch übernatürliche Mittel in der Magie,
nämlich durch den teils eingebildeten, teils unvollkommenen Verkehr mit höheren,
aber keineswegs bösen Geistern.

Bleiben wir noch bei diesem Thema stehen. Die Wahrheit des Pathos
und die beispiellos ungesuchte Gewalt desselben haben dem Ausdruck des Themas
eine bis zur Sprichwörtlichkeit gehende Popularität verschafft, die umso merk¬
würdiger ist, als das Thema an sich schwer zu fassen und bis heute sehr selten
verstanden worden ist. Zu der mit höchster Ursprünglichkeit hervorsprudelnden
Kraft des Pathos tritt allerdings ein besonders anziehendes Element in der
wunderbaren Schönheit der Farbe, welche dem mittelalterlichen Zustande der
Wissenschaft, wo dieselbe eine ganz esoterische, vom Leben abgekehrte Beschäf¬
tigung war, mit einer staunenswerten Macht der Phantasie entnommen ist.
Wenn durch alles dieses der Eindruck dieser Szenen ein mächtiger von jeher
gewesen ist, so sind sie andrerseits in ihrem Kerne, wie gesagt, fast nie ver¬
standen worden. Das Beste hat der wohlmeinende Eifer der philosophischen
Kommentatoren gethan. Den Offenbarungen des Genius gegenüber ist zu viel
des gesuchten Tiefsinus besser als zu wenig. Heute freilich sind wir bei dem
zu wenig angelangt. Die platte Aberweisheit der „Jetztzeit," der eingebildetsten
und selbstgefälligsten Epoche, die je die Sonne beschienen, ruft dem verzweifelten
Faust zu: mit seinem vielen Lernen sei es wohl nichts gewesen, er hätte hübsch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0497" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154662"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Entstehung des Faust.<lb/><note type="byline"> von Konstantin Rößler.</note><lb/>
^. Die erste Gestalt. ^769-^775.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Die Themen.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1486"> as erste Thema des ersten Faust ist das Ungenügen, die Ver¬<lb/>
zweiflung des nach lebendiger Erkenntnis dürstenden Geistes über<lb/>
die toten Massen des traditionellen Wissens, die jene» Durst<lb/>
nicht stillen, ihm nicht einmal die kleinste Ladung reichen. Mit<lb/>
jenem Durst hatte sich der jugendliche Geist des Dichters nach<lb/>
der Genesung von der ersten schweren Krankheit in die mannichfaltigsten Studien<lb/>
gestürzt. Das Resultat dieser Studien war nach der eigenen in Dichtung und<lb/>
Wahrheit gegebenen Aussage der Gemütszustand, wie ihn die erste» Szenen des<lb/>
Faust schildern. In die Verurteilung des Wissens als eiuer Quelle, die nur<lb/>
glitzert, aber nicht erquickt, ist die Masse der toten Erkenntnis eingeschlossen,<lb/>
aber nicht der Versuch, durch die Scheinkunst praktischer Eingriffe in die Natur<lb/>
die Schranken des natürlichen Wissens zu erweitern, auf halbübernatürliche<lb/>
Weise in der Alchymie, und nur durch übernatürliche Mittel in der Magie,<lb/>
nämlich durch den teils eingebildeten, teils unvollkommenen Verkehr mit höheren,<lb/>
aber keineswegs bösen Geistern.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1487" next="#ID_1488"> Bleiben wir noch bei diesem Thema stehen. Die Wahrheit des Pathos<lb/>
und die beispiellos ungesuchte Gewalt desselben haben dem Ausdruck des Themas<lb/>
eine bis zur Sprichwörtlichkeit gehende Popularität verschafft, die umso merk¬<lb/>
würdiger ist, als das Thema an sich schwer zu fassen und bis heute sehr selten<lb/>
verstanden worden ist. Zu der mit höchster Ursprünglichkeit hervorsprudelnden<lb/>
Kraft des Pathos tritt allerdings ein besonders anziehendes Element in der<lb/>
wunderbaren Schönheit der Farbe, welche dem mittelalterlichen Zustande der<lb/>
Wissenschaft, wo dieselbe eine ganz esoterische, vom Leben abgekehrte Beschäf¬<lb/>
tigung war, mit einer staunenswerten Macht der Phantasie entnommen ist.<lb/>
Wenn durch alles dieses der Eindruck dieser Szenen ein mächtiger von jeher<lb/>
gewesen ist, so sind sie andrerseits in ihrem Kerne, wie gesagt, fast nie ver¬<lb/>
standen worden. Das Beste hat der wohlmeinende Eifer der philosophischen<lb/>
Kommentatoren gethan. Den Offenbarungen des Genius gegenüber ist zu viel<lb/>
des gesuchten Tiefsinus besser als zu wenig. Heute freilich sind wir bei dem<lb/>
zu wenig angelangt. Die platte Aberweisheit der &#x201E;Jetztzeit," der eingebildetsten<lb/>
und selbstgefälligsten Epoche, die je die Sonne beschienen, ruft dem verzweifelten<lb/>
Faust zu: mit seinem vielen Lernen sei es wohl nichts gewesen, er hätte hübsch</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0497] Die Entstehung des Faust. von Konstantin Rößler. ^. Die erste Gestalt. ^769-^775. Die Themen. as erste Thema des ersten Faust ist das Ungenügen, die Ver¬ zweiflung des nach lebendiger Erkenntnis dürstenden Geistes über die toten Massen des traditionellen Wissens, die jene» Durst nicht stillen, ihm nicht einmal die kleinste Ladung reichen. Mit jenem Durst hatte sich der jugendliche Geist des Dichters nach der Genesung von der ersten schweren Krankheit in die mannichfaltigsten Studien gestürzt. Das Resultat dieser Studien war nach der eigenen in Dichtung und Wahrheit gegebenen Aussage der Gemütszustand, wie ihn die erste» Szenen des Faust schildern. In die Verurteilung des Wissens als eiuer Quelle, die nur glitzert, aber nicht erquickt, ist die Masse der toten Erkenntnis eingeschlossen, aber nicht der Versuch, durch die Scheinkunst praktischer Eingriffe in die Natur die Schranken des natürlichen Wissens zu erweitern, auf halbübernatürliche Weise in der Alchymie, und nur durch übernatürliche Mittel in der Magie, nämlich durch den teils eingebildeten, teils unvollkommenen Verkehr mit höheren, aber keineswegs bösen Geistern. Bleiben wir noch bei diesem Thema stehen. Die Wahrheit des Pathos und die beispiellos ungesuchte Gewalt desselben haben dem Ausdruck des Themas eine bis zur Sprichwörtlichkeit gehende Popularität verschafft, die umso merk¬ würdiger ist, als das Thema an sich schwer zu fassen und bis heute sehr selten verstanden worden ist. Zu der mit höchster Ursprünglichkeit hervorsprudelnden Kraft des Pathos tritt allerdings ein besonders anziehendes Element in der wunderbaren Schönheit der Farbe, welche dem mittelalterlichen Zustande der Wissenschaft, wo dieselbe eine ganz esoterische, vom Leben abgekehrte Beschäf¬ tigung war, mit einer staunenswerten Macht der Phantasie entnommen ist. Wenn durch alles dieses der Eindruck dieser Szenen ein mächtiger von jeher gewesen ist, so sind sie andrerseits in ihrem Kerne, wie gesagt, fast nie ver¬ standen worden. Das Beste hat der wohlmeinende Eifer der philosophischen Kommentatoren gethan. Den Offenbarungen des Genius gegenüber ist zu viel des gesuchten Tiefsinus besser als zu wenig. Heute freilich sind wir bei dem zu wenig angelangt. Die platte Aberweisheit der „Jetztzeit," der eingebildetsten und selbstgefälligsten Epoche, die je die Sonne beschienen, ruft dem verzweifelten Faust zu: mit seinem vielen Lernen sei es wohl nichts gewesen, er hätte hübsch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/497
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/497>, abgerufen am 13.11.2024.