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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Der Hieg Ferrys über die Radikalen.

as mit ziemlicher Bestimmtheit erwartet werden konnte, hat sich
erfüllt: Das Ministerium Ferrh hat bei der Debatte über die
Tonkin-Frage, welche durch den Abgeordneten Gräuel herbeigeführt
wurde, von der Kammer ein Vertrauensvotum erhalten, und zwar
ein solches, an dem sich eine sehr starke Mehrheit der Versamm¬
lung beteiligte. 339 Stimmen von 499 drückten der Regierung ihre unbedingte
Billigung der Politik aus, welche sie in Hinterindien befolgt hat. Dieses Votum
umfaßt nicht nur die Gesamtheit dessen, was dieselbe in den letzten Monaten
dort gethan und unterlassen hat, sondern giebt ihr auch so ziemlich volle Frei¬
heit für ihr weiteres Verfahren in jenen Ländern. Wer sich des Verhaltens der
beiden französischen Kammern bei früheren Gelegenheiten ähnlicher Art entsinne,
wird darüber nicht erstaunt sein. Das Vorgehen Frankreichs in Tunis, Mada¬
gaskar und Tonkin bekundet das Wiederaufleben eines Geistes, der die fran¬
zösische Politik häufig beseelt hat, und jeder Kenner der Verhältnisse war sich
schon geraume Zeit klar darüber, daß diejenigen Politiker, welche alle Unter¬
nehmungen zur Ausdehnung des Besitzes und der Herrschaft Frankreichs auf
die Südküste des Mittelmeeres beschränkt zu sehen wünschten, nur eine nicht
sehr beträchtliche Minorität ausmachten. Vor etwa fünf Vierteljahren unter¬
nahm man im Senate den Versuch, ein die Politik überseeischer Eroberungen
verwerfendes, sie wenigstens zügelndes und beschränkendes Votum zustande zu
bringen, aber ohne Erfolg, obwohl viel Beredtsamkeit darauf verwendet wurde.
Damals war die Regierung zu einer Eroberungspolitik genötigt, die mit der
Entdeckung der Chrumirs begonnen hatte, und niemand hätte vermutet, daß die
verantwortlichen Minister zurücktreten würden. Jetzt ist das Kabinet gleicher¬
maßen auf eine solche Politik angewiesen, erstens weil seine Vorgänger die Be¬
satzung von Hanoi verstärkten, dann weil es selbst eine kleine Armee nach dem
Delta des Roten Flusses absendete, die Forts am Huchrome stürmen ließ und
in der Hauptstadt Annäus einen Vertrag diktirte. Bei allen diesen Gelegen¬
heiten erteilten beide Kammern, sobald man sich an sie wendete, dem Verfahren
der verschiedenen Ministerien, die einander folgten, ihre Zustimmung. Die einzige
Ausnahme von dieser Regel war der Weg, den sie in Betracht der ägyptischen
Frage einschlugen, und die letzte Herausforderung, die am 30. Oktober durch
Abstimmung zur Entscheidung gebracht wurde, mißglückte ebenso wie alle früheren
Versuche, die Volksvertretung zu bewegen, die Unternehmungen der Kolonial¬
politik der Regierung zu verwerfen. Auch kann man nicht sagen, daß die Kammer¬
mehrheit über die Sache im Dunkeln gewesen wäre, als sie ihre Meinung aus-


Grcnzboten IV. 1883. 46
Der Hieg Ferrys über die Radikalen.

as mit ziemlicher Bestimmtheit erwartet werden konnte, hat sich
erfüllt: Das Ministerium Ferrh hat bei der Debatte über die
Tonkin-Frage, welche durch den Abgeordneten Gräuel herbeigeführt
wurde, von der Kammer ein Vertrauensvotum erhalten, und zwar
ein solches, an dem sich eine sehr starke Mehrheit der Versamm¬
lung beteiligte. 339 Stimmen von 499 drückten der Regierung ihre unbedingte
Billigung der Politik aus, welche sie in Hinterindien befolgt hat. Dieses Votum
umfaßt nicht nur die Gesamtheit dessen, was dieselbe in den letzten Monaten
dort gethan und unterlassen hat, sondern giebt ihr auch so ziemlich volle Frei¬
heit für ihr weiteres Verfahren in jenen Ländern. Wer sich des Verhaltens der
beiden französischen Kammern bei früheren Gelegenheiten ähnlicher Art entsinne,
wird darüber nicht erstaunt sein. Das Vorgehen Frankreichs in Tunis, Mada¬
gaskar und Tonkin bekundet das Wiederaufleben eines Geistes, der die fran¬
zösische Politik häufig beseelt hat, und jeder Kenner der Verhältnisse war sich
schon geraume Zeit klar darüber, daß diejenigen Politiker, welche alle Unter¬
nehmungen zur Ausdehnung des Besitzes und der Herrschaft Frankreichs auf
die Südküste des Mittelmeeres beschränkt zu sehen wünschten, nur eine nicht
sehr beträchtliche Minorität ausmachten. Vor etwa fünf Vierteljahren unter¬
nahm man im Senate den Versuch, ein die Politik überseeischer Eroberungen
verwerfendes, sie wenigstens zügelndes und beschränkendes Votum zustande zu
bringen, aber ohne Erfolg, obwohl viel Beredtsamkeit darauf verwendet wurde.
Damals war die Regierung zu einer Eroberungspolitik genötigt, die mit der
Entdeckung der Chrumirs begonnen hatte, und niemand hätte vermutet, daß die
verantwortlichen Minister zurücktreten würden. Jetzt ist das Kabinet gleicher¬
maßen auf eine solche Politik angewiesen, erstens weil seine Vorgänger die Be¬
satzung von Hanoi verstärkten, dann weil es selbst eine kleine Armee nach dem
Delta des Roten Flusses absendete, die Forts am Huchrome stürmen ließ und
in der Hauptstadt Annäus einen Vertrag diktirte. Bei allen diesen Gelegen¬
heiten erteilten beide Kammern, sobald man sich an sie wendete, dem Verfahren
der verschiedenen Ministerien, die einander folgten, ihre Zustimmung. Die einzige
Ausnahme von dieser Regel war der Weg, den sie in Betracht der ägyptischen
Frage einschlugen, und die letzte Herausforderung, die am 30. Oktober durch
Abstimmung zur Entscheidung gebracht wurde, mißglückte ebenso wie alle früheren
Versuche, die Volksvertretung zu bewegen, die Unternehmungen der Kolonial¬
politik der Regierung zu verwerfen. Auch kann man nicht sagen, daß die Kammer¬
mehrheit über die Sache im Dunkeln gewesen wäre, als sie ihre Meinung aus-


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[0371] Der Hieg Ferrys über die Radikalen. as mit ziemlicher Bestimmtheit erwartet werden konnte, hat sich erfüllt: Das Ministerium Ferrh hat bei der Debatte über die Tonkin-Frage, welche durch den Abgeordneten Gräuel herbeigeführt wurde, von der Kammer ein Vertrauensvotum erhalten, und zwar ein solches, an dem sich eine sehr starke Mehrheit der Versamm¬ lung beteiligte. 339 Stimmen von 499 drückten der Regierung ihre unbedingte Billigung der Politik aus, welche sie in Hinterindien befolgt hat. Dieses Votum umfaßt nicht nur die Gesamtheit dessen, was dieselbe in den letzten Monaten dort gethan und unterlassen hat, sondern giebt ihr auch so ziemlich volle Frei¬ heit für ihr weiteres Verfahren in jenen Ländern. Wer sich des Verhaltens der beiden französischen Kammern bei früheren Gelegenheiten ähnlicher Art entsinne, wird darüber nicht erstaunt sein. Das Vorgehen Frankreichs in Tunis, Mada¬ gaskar und Tonkin bekundet das Wiederaufleben eines Geistes, der die fran¬ zösische Politik häufig beseelt hat, und jeder Kenner der Verhältnisse war sich schon geraume Zeit klar darüber, daß diejenigen Politiker, welche alle Unter¬ nehmungen zur Ausdehnung des Besitzes und der Herrschaft Frankreichs auf die Südküste des Mittelmeeres beschränkt zu sehen wünschten, nur eine nicht sehr beträchtliche Minorität ausmachten. Vor etwa fünf Vierteljahren unter¬ nahm man im Senate den Versuch, ein die Politik überseeischer Eroberungen verwerfendes, sie wenigstens zügelndes und beschränkendes Votum zustande zu bringen, aber ohne Erfolg, obwohl viel Beredtsamkeit darauf verwendet wurde. Damals war die Regierung zu einer Eroberungspolitik genötigt, die mit der Entdeckung der Chrumirs begonnen hatte, und niemand hätte vermutet, daß die verantwortlichen Minister zurücktreten würden. Jetzt ist das Kabinet gleicher¬ maßen auf eine solche Politik angewiesen, erstens weil seine Vorgänger die Be¬ satzung von Hanoi verstärkten, dann weil es selbst eine kleine Armee nach dem Delta des Roten Flusses absendete, die Forts am Huchrome stürmen ließ und in der Hauptstadt Annäus einen Vertrag diktirte. Bei allen diesen Gelegen¬ heiten erteilten beide Kammern, sobald man sich an sie wendete, dem Verfahren der verschiedenen Ministerien, die einander folgten, ihre Zustimmung. Die einzige Ausnahme von dieser Regel war der Weg, den sie in Betracht der ägyptischen Frage einschlugen, und die letzte Herausforderung, die am 30. Oktober durch Abstimmung zur Entscheidung gebracht wurde, mißglückte ebenso wie alle früheren Versuche, die Volksvertretung zu bewegen, die Unternehmungen der Kolonial¬ politik der Regierung zu verwerfen. Auch kann man nicht sagen, daß die Kammer¬ mehrheit über die Sache im Dunkeln gewesen wäre, als sie ihre Meinung aus- Grcnzboten IV. 1883. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/371>, abgerufen am 27.07.2024.