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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Botho von Hülsen und seine Leute.

an hat unser Zeitalter bald das papierne, bald das elektrische
genannt. Philosophisch betrachtet könnte es das kritische heißen.
Die Untersuchung dessen, was da ist und was sein sollte, nimmt
auf alle" Gebieten des menschlichen Wirkens heute den breitesten
Raum ein. In der Politik ebensowohl wie in der Kunst und
in der Philosophie, in der Technik wie in der Naturwissenschaft wird zergliedert,
aufgelöst und zersetzt, um dem Wesen der Dinge auf den Grund zu kommen.
Die besten Köpfe studiren die Ursachen unsrer Unvollkommenheiten und fühlen
der Zeit den Puls. Man könnte heute das Goethische Wort etwas modifizirt
im umgekehrten Sinne anwenden: Ein Kerl, der nicht kritisirt, ist wie ein Tier
auf dürrer Haide. Daß diese analytische Neigung der Gegenwart aus der
Natur unsrer gesamten Kulturzustände erklärt werden muß, weil sie darnach
strebt, durch Auseinanderlegen der Teile zur bessern Erkenntnis des Lebens und
damit zur höhern materiellen Glückseligkeit zu gelangen, an der es uns gegen¬
wärtig mehr zu mangeln scheint als jemals einem Zeitalter zuvor, wird dein
nicht verborgen bleiben, der die Erscheinungen in ihrem kausalen Zusammen^
hange aufzufassen gewohnt ist.

Es ist ohne weiteres klar, daß in einer vorwiegend kritisch, also verstandes¬
mäßig disponirten Zeit die Schöpfungen der Phantasie nicht zu dein Grade der
Vollkommenheit gelangen können, wie in einer im behaglichen Genusse der er¬
worbene" Güter relativ zufriedenen, durch kein nervöses Drängen beunruhigten
Epoche. Nicht auf dem lärmenden Markte und an der Heerstraße, sondern im
heiligen Lorbeerhaine Apollos weilt das Ideal. Wo die Kunst gedeihen soll,
muß die Phantasie ungestört sich entwickeln können. Das sollte niemand, der
das künstlerische Soll und Haben einer Periode zu prüfen gewillt ist, außer
Acht lassen.

Dennoch leiden so viele Rechnungen an diesem Fehler. Auch die neueste,
welche Dr. Paul Schlenther, el" junger, zu großen Hoffnungen berechtigender
Berliner Schriftsteller, in seiner Broschüre: Botho von Hülsen und seine
Leute über den künstlerischen Stand des Berliner Hofschanspiels aufgestellt hat
(Berlin, I. Gerstmann).

Schlenther, dessen formgewandter und durchsichtiger Darstellungsweise alle
Anerkennung gebührt, hat die bei derlei Beurteilungen übliche Methode an¬
gewendet, das Personal und das Repertoire einer genauern Betrachtung zu
unterziehen und aus den gewonnenen Resultaten auf die künstlerische Quali¬
fikation des Herrn von Hülsen einen Rückschluß zu thun. "An ihren Früchten


Botho von Hülsen und seine Leute.

an hat unser Zeitalter bald das papierne, bald das elektrische
genannt. Philosophisch betrachtet könnte es das kritische heißen.
Die Untersuchung dessen, was da ist und was sein sollte, nimmt
auf alle» Gebieten des menschlichen Wirkens heute den breitesten
Raum ein. In der Politik ebensowohl wie in der Kunst und
in der Philosophie, in der Technik wie in der Naturwissenschaft wird zergliedert,
aufgelöst und zersetzt, um dem Wesen der Dinge auf den Grund zu kommen.
Die besten Köpfe studiren die Ursachen unsrer Unvollkommenheiten und fühlen
der Zeit den Puls. Man könnte heute das Goethische Wort etwas modifizirt
im umgekehrten Sinne anwenden: Ein Kerl, der nicht kritisirt, ist wie ein Tier
auf dürrer Haide. Daß diese analytische Neigung der Gegenwart aus der
Natur unsrer gesamten Kulturzustände erklärt werden muß, weil sie darnach
strebt, durch Auseinanderlegen der Teile zur bessern Erkenntnis des Lebens und
damit zur höhern materiellen Glückseligkeit zu gelangen, an der es uns gegen¬
wärtig mehr zu mangeln scheint als jemals einem Zeitalter zuvor, wird dein
nicht verborgen bleiben, der die Erscheinungen in ihrem kausalen Zusammen^
hange aufzufassen gewohnt ist.

Es ist ohne weiteres klar, daß in einer vorwiegend kritisch, also verstandes¬
mäßig disponirten Zeit die Schöpfungen der Phantasie nicht zu dein Grade der
Vollkommenheit gelangen können, wie in einer im behaglichen Genusse der er¬
worbene» Güter relativ zufriedenen, durch kein nervöses Drängen beunruhigten
Epoche. Nicht auf dem lärmenden Markte und an der Heerstraße, sondern im
heiligen Lorbeerhaine Apollos weilt das Ideal. Wo die Kunst gedeihen soll,
muß die Phantasie ungestört sich entwickeln können. Das sollte niemand, der
das künstlerische Soll und Haben einer Periode zu prüfen gewillt ist, außer
Acht lassen.

Dennoch leiden so viele Rechnungen an diesem Fehler. Auch die neueste,
welche Dr. Paul Schlenther, el» junger, zu großen Hoffnungen berechtigender
Berliner Schriftsteller, in seiner Broschüre: Botho von Hülsen und seine
Leute über den künstlerischen Stand des Berliner Hofschanspiels aufgestellt hat
(Berlin, I. Gerstmann).

Schlenther, dessen formgewandter und durchsichtiger Darstellungsweise alle
Anerkennung gebührt, hat die bei derlei Beurteilungen übliche Methode an¬
gewendet, das Personal und das Repertoire einer genauern Betrachtung zu
unterziehen und aus den gewonnenen Resultaten auf die künstlerische Quali¬
fikation des Herrn von Hülsen einen Rückschluß zu thun. „An ihren Früchten


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[0032] Botho von Hülsen und seine Leute. an hat unser Zeitalter bald das papierne, bald das elektrische genannt. Philosophisch betrachtet könnte es das kritische heißen. Die Untersuchung dessen, was da ist und was sein sollte, nimmt auf alle» Gebieten des menschlichen Wirkens heute den breitesten Raum ein. In der Politik ebensowohl wie in der Kunst und in der Philosophie, in der Technik wie in der Naturwissenschaft wird zergliedert, aufgelöst und zersetzt, um dem Wesen der Dinge auf den Grund zu kommen. Die besten Köpfe studiren die Ursachen unsrer Unvollkommenheiten und fühlen der Zeit den Puls. Man könnte heute das Goethische Wort etwas modifizirt im umgekehrten Sinne anwenden: Ein Kerl, der nicht kritisirt, ist wie ein Tier auf dürrer Haide. Daß diese analytische Neigung der Gegenwart aus der Natur unsrer gesamten Kulturzustände erklärt werden muß, weil sie darnach strebt, durch Auseinanderlegen der Teile zur bessern Erkenntnis des Lebens und damit zur höhern materiellen Glückseligkeit zu gelangen, an der es uns gegen¬ wärtig mehr zu mangeln scheint als jemals einem Zeitalter zuvor, wird dein nicht verborgen bleiben, der die Erscheinungen in ihrem kausalen Zusammen^ hange aufzufassen gewohnt ist. Es ist ohne weiteres klar, daß in einer vorwiegend kritisch, also verstandes¬ mäßig disponirten Zeit die Schöpfungen der Phantasie nicht zu dein Grade der Vollkommenheit gelangen können, wie in einer im behaglichen Genusse der er¬ worbene» Güter relativ zufriedenen, durch kein nervöses Drängen beunruhigten Epoche. Nicht auf dem lärmenden Markte und an der Heerstraße, sondern im heiligen Lorbeerhaine Apollos weilt das Ideal. Wo die Kunst gedeihen soll, muß die Phantasie ungestört sich entwickeln können. Das sollte niemand, der das künstlerische Soll und Haben einer Periode zu prüfen gewillt ist, außer Acht lassen. Dennoch leiden so viele Rechnungen an diesem Fehler. Auch die neueste, welche Dr. Paul Schlenther, el» junger, zu großen Hoffnungen berechtigender Berliner Schriftsteller, in seiner Broschüre: Botho von Hülsen und seine Leute über den künstlerischen Stand des Berliner Hofschanspiels aufgestellt hat (Berlin, I. Gerstmann). Schlenther, dessen formgewandter und durchsichtiger Darstellungsweise alle Anerkennung gebührt, hat die bei derlei Beurteilungen übliche Methode an¬ gewendet, das Personal und das Repertoire einer genauern Betrachtung zu unterziehen und aus den gewonnenen Resultaten auf die künstlerische Quali¬ fikation des Herrn von Hülsen einen Rückschluß zu thun. „An ihren Früchten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/32>, abgerufen am 13.11.2024.