Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.Gedanken über Goethe. von Victor Hohn. 2. Stände, (Schluß,) lief Bisherige, wie wir es Goethes Werken ciitnvmmen haben, Wer will jetzt seinem Nachbar helfen? Und wenn die beiden Episteln über das Unheil des vielen Lesens sich verbreiten es sollte kein Buch im Laufe des Jahres so dringt jetzt nicht das Buch, das wäre noch das geringere Übel, sondern die Gedanken über Goethe. von Victor Hohn. 2. Stände, (Schluß,) lief Bisherige, wie wir es Goethes Werken ciitnvmmen haben, Wer will jetzt seinem Nachbar helfen? Und wenn die beiden Episteln über das Unheil des vielen Lesens sich verbreiten es sollte kein Buch im Laufe des Jahres so dringt jetzt nicht das Buch, das wäre noch das geringere Übel, sondern die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0302" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154467"/> </div> <div n="1"> <head> Gedanken über Goethe.<lb/><note type="byline"> von Victor Hohn.</note> 2. Stände,<lb/> (Schluß,)</head><lb/> <p xml:id="ID_907" next="#ID_908"> lief Bisherige, wie wir es Goethes Werken ciitnvmmen haben,<lb/> ist, mehr oder minder, ein Jahrhundert alt, und seitdem hat sich<lb/> viel verändert. Die bürgerliche Sittlichkeit, jene enge, aber warme<lb/> und in sich reiche Sphäre, sie besteht fast nur noch in entlegenen<lb/> Gegenden, an kleinen Orten, in zufällig verschonten Kreisen. Sie<lb/> ist verdunstet, wie ein edler alter Wein, der offen stehen geblieben ist, der Luft<lb/> und dem Lichte ausgesetzt. Und wie in der Revolution die goldnen und sil¬<lb/> bernen Gefäße, die kunstreichen Schalen aus altem Familienschatze, die Leuchter<lb/> und Kelche vom Altar eingeschmolzen wurden, um Geld daraus zu prägen, so<lb/> lösten sich unter eifrigen Händen auch die mannichfachen Bildungen der Gesell¬<lb/> schaft auf, um öde und gleichmäßig zu Zahl und Ziffer, zu Atomismus und<lb/> Mechanik zu werden. Wen kümmert noch die Nachbarschaft? Schon der Schatz¬<lb/> meister im zweiten Teile des „Faust" klagt darüber:</p><lb/> <quote> Wer will jetzt seinem Nachbar helfen?<lb/> Ein jeder hat für sich zu thun.</quote><lb/> <p xml:id="ID_908" prev="#ID_907" next="#ID_909"> Und wenn die beiden Episteln über das Unheil des vielen Lesens sich verbreiten<lb/> und der Hausvater am Schlüsse ausruft: Hätte ich noch so viel Töchter,</p><lb/> <quote> es sollte kein Buch im Laufe des Jahres<lb/> Über die Schwelle nur kommen, vom Bücherverleiher versendet —,</quote><lb/> <p xml:id="ID_909" prev="#ID_908" next="#ID_910"> so dringt jetzt nicht das Buch, das wäre noch das geringere Übel, sondern die<lb/> Zeitung jeden Tag, ja zweimal des Tages, in die ärmste Hütte und ist uner¬<lb/> müdlich beflissen, den Samen der Unzufriedenheit auszustreuen und die Ehr¬<lb/> erbietung, den Glauben an ein Höheres zu zerstören. Alle Schranken sind ge¬<lb/> fallen, und so ist alles beweglich geworden, selbst der Grund und Boden, jedes<lb/> Erbe der Vorfahren. Die Eisenbahn, die Todfeindin heimatlicher und herzlicher<lb/> Gefühle, versammelt immer mehr Menschen in den großen Mittelpunkten; dort<lb/> wirbeln die Sandkörner durcheinander, und zuletzt zerfällt alles in den einen<lb/> großen Gegensatz von Arm und Reich, abzehrenden Elend und schwelgerischen<lb/> Übermut. Sich in das Werk seiner Hände zu vertiefen, kann keinem Meister<lb/> mehr einfallen, denn die Fabrik, die Maschine ist ihm weit voraus, und wenn<lb/> er nicht Marktschreier und Lügner ist, wird sein Erwerb bald stocken, und er</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0302]
Gedanken über Goethe.
von Victor Hohn. 2. Stände,
(Schluß,)
lief Bisherige, wie wir es Goethes Werken ciitnvmmen haben,
ist, mehr oder minder, ein Jahrhundert alt, und seitdem hat sich
viel verändert. Die bürgerliche Sittlichkeit, jene enge, aber warme
und in sich reiche Sphäre, sie besteht fast nur noch in entlegenen
Gegenden, an kleinen Orten, in zufällig verschonten Kreisen. Sie
ist verdunstet, wie ein edler alter Wein, der offen stehen geblieben ist, der Luft
und dem Lichte ausgesetzt. Und wie in der Revolution die goldnen und sil¬
bernen Gefäße, die kunstreichen Schalen aus altem Familienschatze, die Leuchter
und Kelche vom Altar eingeschmolzen wurden, um Geld daraus zu prägen, so
lösten sich unter eifrigen Händen auch die mannichfachen Bildungen der Gesell¬
schaft auf, um öde und gleichmäßig zu Zahl und Ziffer, zu Atomismus und
Mechanik zu werden. Wen kümmert noch die Nachbarschaft? Schon der Schatz¬
meister im zweiten Teile des „Faust" klagt darüber:
Wer will jetzt seinem Nachbar helfen?
Ein jeder hat für sich zu thun.
Und wenn die beiden Episteln über das Unheil des vielen Lesens sich verbreiten
und der Hausvater am Schlüsse ausruft: Hätte ich noch so viel Töchter,
es sollte kein Buch im Laufe des Jahres
Über die Schwelle nur kommen, vom Bücherverleiher versendet —,
so dringt jetzt nicht das Buch, das wäre noch das geringere Übel, sondern die
Zeitung jeden Tag, ja zweimal des Tages, in die ärmste Hütte und ist uner¬
müdlich beflissen, den Samen der Unzufriedenheit auszustreuen und die Ehr¬
erbietung, den Glauben an ein Höheres zu zerstören. Alle Schranken sind ge¬
fallen, und so ist alles beweglich geworden, selbst der Grund und Boden, jedes
Erbe der Vorfahren. Die Eisenbahn, die Todfeindin heimatlicher und herzlicher
Gefühle, versammelt immer mehr Menschen in den großen Mittelpunkten; dort
wirbeln die Sandkörner durcheinander, und zuletzt zerfällt alles in den einen
großen Gegensatz von Arm und Reich, abzehrenden Elend und schwelgerischen
Übermut. Sich in das Werk seiner Hände zu vertiefen, kann keinem Meister
mehr einfallen, denn die Fabrik, die Maschine ist ihm weit voraus, und wenn
er nicht Marktschreier und Lügner ist, wird sein Erwerb bald stocken, und er
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