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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Rußland und der alleinseligmachende Konstitu¬
tionalismus.

iberale Verfassungen sind Panaceen, sie heilen kranke Zeiten und
Völker in allen Fallen. Rußland ist krank in allen Gliedern,
an allen Gebrechen. Also gebe man ihm eine freisinnige Ver¬
fassung, reformire man es in konstitutioneller Richtung, applizire
man ihm den Parlamentarismus, und es wird gesund werden.
So oder ähnlich rnsonuirte in den letzten Jahren vielfach die deutsche und die
englische Presse, so konnte man die Liberale" sich mündlich äußern hören, und
in diesem Stil ungefähr sprach sich neulich auch ein hochstehender Russe aus.

Bei Gelegenheit der Moskaner Krönungsfeierlichkeiten fand im Grand Hotel
de Mvsevu ein Banket statt, an welchem die Vertreter sämtlicher Gouvernements-
stäote Rußlands teilnahmen und bei dem Herr Tschitscherin, das "Stadthaupt" (der
Bürgermeister) von Moskau, eine Rede vom Stapel ließ, welche im höchsten Grade
Erstaunen hervorrufen mußte. Er sagte darin u. a.: "Wir leben in einer Zeit, in
welcher es die Pflicht aller russische" Bürger und noch vielmehr der lokalen Vertreter
ist, die ernsteste und größte Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse zu richten, welche
sich uns in auffülliger Weise zeigen. Jetzt, wie vor zweihundert Jahren,' bietet
Rußland den Anblick eines Tempels in Ruinen. In der Verwaltung ist keine
Spur von Harmonie, Einheit existirt einfach nicht. Als Peter Rußland einen
in Ruinen liegenden Tempel nannte, fügte er hinzu, daß ein Architekt nötig sei,
welcher die zerstreuten Steine sammeln und wieder aufstellen und ans ihnen
einen Bau aufführen sollte, unter dessen Dach die Wohlfahrt des Volkes ge¬
pflegt und geschlitzt werden könnte. In jener Zeit war ein solcher Architekt


Gr^iizdolen III 1683, I


Rußland und der alleinseligmachende Konstitu¬
tionalismus.

iberale Verfassungen sind Panaceen, sie heilen kranke Zeiten und
Völker in allen Fallen. Rußland ist krank in allen Gliedern,
an allen Gebrechen. Also gebe man ihm eine freisinnige Ver¬
fassung, reformire man es in konstitutioneller Richtung, applizire
man ihm den Parlamentarismus, und es wird gesund werden.
So oder ähnlich rnsonuirte in den letzten Jahren vielfach die deutsche und die
englische Presse, so konnte man die Liberale» sich mündlich äußern hören, und
in diesem Stil ungefähr sprach sich neulich auch ein hochstehender Russe aus.

Bei Gelegenheit der Moskaner Krönungsfeierlichkeiten fand im Grand Hotel
de Mvsevu ein Banket statt, an welchem die Vertreter sämtlicher Gouvernements-
stäote Rußlands teilnahmen und bei dem Herr Tschitscherin, das „Stadthaupt" (der
Bürgermeister) von Moskau, eine Rede vom Stapel ließ, welche im höchsten Grade
Erstaunen hervorrufen mußte. Er sagte darin u. a.: „Wir leben in einer Zeit, in
welcher es die Pflicht aller russische» Bürger und noch vielmehr der lokalen Vertreter
ist, die ernsteste und größte Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse zu richten, welche
sich uns in auffülliger Weise zeigen. Jetzt, wie vor zweihundert Jahren,' bietet
Rußland den Anblick eines Tempels in Ruinen. In der Verwaltung ist keine
Spur von Harmonie, Einheit existirt einfach nicht. Als Peter Rußland einen
in Ruinen liegenden Tempel nannte, fügte er hinzu, daß ein Architekt nötig sei,
welcher die zerstreuten Steine sammeln und wieder aufstellen und ans ihnen
einen Bau aufführen sollte, unter dessen Dach die Wohlfahrt des Volkes ge¬
pflegt und geschlitzt werden könnte. In jener Zeit war ein solcher Architekt


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[0009] [Abbildung] Rußland und der alleinseligmachende Konstitu¬ tionalismus. iberale Verfassungen sind Panaceen, sie heilen kranke Zeiten und Völker in allen Fallen. Rußland ist krank in allen Gliedern, an allen Gebrechen. Also gebe man ihm eine freisinnige Ver¬ fassung, reformire man es in konstitutioneller Richtung, applizire man ihm den Parlamentarismus, und es wird gesund werden. So oder ähnlich rnsonuirte in den letzten Jahren vielfach die deutsche und die englische Presse, so konnte man die Liberale» sich mündlich äußern hören, und in diesem Stil ungefähr sprach sich neulich auch ein hochstehender Russe aus. Bei Gelegenheit der Moskaner Krönungsfeierlichkeiten fand im Grand Hotel de Mvsevu ein Banket statt, an welchem die Vertreter sämtlicher Gouvernements- stäote Rußlands teilnahmen und bei dem Herr Tschitscherin, das „Stadthaupt" (der Bürgermeister) von Moskau, eine Rede vom Stapel ließ, welche im höchsten Grade Erstaunen hervorrufen mußte. Er sagte darin u. a.: „Wir leben in einer Zeit, in welcher es die Pflicht aller russische» Bürger und noch vielmehr der lokalen Vertreter ist, die ernsteste und größte Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse zu richten, welche sich uns in auffülliger Weise zeigen. Jetzt, wie vor zweihundert Jahren,' bietet Rußland den Anblick eines Tempels in Ruinen. In der Verwaltung ist keine Spur von Harmonie, Einheit existirt einfach nicht. Als Peter Rußland einen in Ruinen liegenden Tempel nannte, fügte er hinzu, daß ein Architekt nötig sei, welcher die zerstreuten Steine sammeln und wieder aufstellen und ans ihnen einen Bau aufführen sollte, unter dessen Dach die Wohlfahrt des Volkes ge¬ pflegt und geschlitzt werden könnte. In jener Zeit war ein solcher Architekt Gr^iizdolen III 1683, I

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/9>, abgerufen am 08.09.2024.