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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Welt und der transcendentale Gegenstand
in Ranks Kritik der reinen Vernunft.

as größere Interesse, das gegenwärtig wieder anfängt methodo¬
logischen und philosophischen Fragen allgemein entgegengebracht
zu werden, und die gelegentliche Erörterung erkenntnistheoreti¬
scher Probleme unter Anschluß an Kant in dieser Zeitschrift
ermuntert mich, die Ansicht, die ich über die Bedeutung der
Ausdrücke "Welt" und "transcendentaler Gegenstand" in Kants "Kritik der reinen
Vernunft" mir gebildet habe, nicht zurückzuhalten, ja veranlaßt mich geradezu,
dieselbe, wenn auch in Kürze, hier vorzulegen.

"Welt" ist von dem Begriffe "Natur" eigentlich etwas verschieden dadurch,
daß in der erstern der Umfang des bezeichneten Gebietes in den Vordergrund
tritt, während der Begriff "Natur" auf die Qualität des betreffenden Gebietes
zielt. Wenn wir von der Welt schlechthin reden, so meinen wir die sinnliche;
ihr Umfang spiegelt sich wieder in ihren Lieblingsprädikaten: die ganze Welt,
die große Welt, das Weltall. Sehen wir von der Summe ihres Inhalts ab
und haben wir bloß ihre Art im Auge, so sagen wir lieber "Natur" und denken
als Gegensatz dazu "Geist" oder je nach der Auffassung auch "Mensch" (am
schärfsten wird dieser Gegensatz durch "Nicht-Ich" und "Ich" gegeben). Auf
eben dieser Nüance beruht auch die Übertragbarkeit des Begriffes "Welt" auf
uichtsiunliche Gebiete: wir reden von der Welt des Geistes, der Gesamtheit
aller geistigen Bethätigungen und Errungenschaften, von der sittlichen Welt, der
Sphäre aller sittlichen Bewährung und Nichtbewährnng.

Aber wir wollen es adoptiren, daß der Ausdruck "Welt" auch da gebraucht
werde, wo nur von dein Charakter des darunter Gedachten die Rede ist, daß er
ausgedehnt werde auf das Nicht-Ich in jedem Sinne. Übrigens halten wir uns
im folgenden ausschließlich an die sinnliche Welt.

Von dieser Welt seiner Wahrnehmungen setzt der naive Mensch voraus,
ohne es geradezu in den Begriff der Welt hineinzuziehen, daß sie nicht sowohl
darstelle die menschliche Vorstellung eines irgendwie gegebenen Wahrnehmbaren,
sondern die Eigenschaften von uus unabhängig existirender Dinge selbst. "Ich sehe
einen Baum" ist ihm nicht, wie dem Kritizismus, eine bloße Wiedergabe der
Erfahrung: ich habe grüne Farbenempfindungen, diese werden aufgesammelt und
mit andern (gleichzeitig empfangenen) Sinneseindrückcn durch die Thätigkeit des
Verstandes zu einem Gegenstande verarbeitet, dessen Unterschiedensein von anderen,
ebenso gewonnenen Gegenständen ihn schließlich als Baum bezeichnen läßt.


Die Welt und der transcendentale Gegenstand
in Ranks Kritik der reinen Vernunft.

as größere Interesse, das gegenwärtig wieder anfängt methodo¬
logischen und philosophischen Fragen allgemein entgegengebracht
zu werden, und die gelegentliche Erörterung erkenntnistheoreti¬
scher Probleme unter Anschluß an Kant in dieser Zeitschrift
ermuntert mich, die Ansicht, die ich über die Bedeutung der
Ausdrücke „Welt" und „transcendentaler Gegenstand" in Kants „Kritik der reinen
Vernunft" mir gebildet habe, nicht zurückzuhalten, ja veranlaßt mich geradezu,
dieselbe, wenn auch in Kürze, hier vorzulegen.

„Welt" ist von dem Begriffe „Natur" eigentlich etwas verschieden dadurch,
daß in der erstern der Umfang des bezeichneten Gebietes in den Vordergrund
tritt, während der Begriff „Natur" auf die Qualität des betreffenden Gebietes
zielt. Wenn wir von der Welt schlechthin reden, so meinen wir die sinnliche;
ihr Umfang spiegelt sich wieder in ihren Lieblingsprädikaten: die ganze Welt,
die große Welt, das Weltall. Sehen wir von der Summe ihres Inhalts ab
und haben wir bloß ihre Art im Auge, so sagen wir lieber „Natur" und denken
als Gegensatz dazu „Geist" oder je nach der Auffassung auch „Mensch" (am
schärfsten wird dieser Gegensatz durch „Nicht-Ich" und „Ich" gegeben). Auf
eben dieser Nüance beruht auch die Übertragbarkeit des Begriffes „Welt" auf
uichtsiunliche Gebiete: wir reden von der Welt des Geistes, der Gesamtheit
aller geistigen Bethätigungen und Errungenschaften, von der sittlichen Welt, der
Sphäre aller sittlichen Bewährung und Nichtbewährnng.

Aber wir wollen es adoptiren, daß der Ausdruck „Welt" auch da gebraucht
werde, wo nur von dein Charakter des darunter Gedachten die Rede ist, daß er
ausgedehnt werde auf das Nicht-Ich in jedem Sinne. Übrigens halten wir uns
im folgenden ausschließlich an die sinnliche Welt.

Von dieser Welt seiner Wahrnehmungen setzt der naive Mensch voraus,
ohne es geradezu in den Begriff der Welt hineinzuziehen, daß sie nicht sowohl
darstelle die menschliche Vorstellung eines irgendwie gegebenen Wahrnehmbaren,
sondern die Eigenschaften von uus unabhängig existirender Dinge selbst. „Ich sehe
einen Baum" ist ihm nicht, wie dem Kritizismus, eine bloße Wiedergabe der
Erfahrung: ich habe grüne Farbenempfindungen, diese werden aufgesammelt und
mit andern (gleichzeitig empfangenen) Sinneseindrückcn durch die Thätigkeit des
Verstandes zu einem Gegenstande verarbeitet, dessen Unterschiedensein von anderen,
ebenso gewonnenen Gegenständen ihn schließlich als Baum bezeichnen läßt.


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[0232] Die Welt und der transcendentale Gegenstand in Ranks Kritik der reinen Vernunft. as größere Interesse, das gegenwärtig wieder anfängt methodo¬ logischen und philosophischen Fragen allgemein entgegengebracht zu werden, und die gelegentliche Erörterung erkenntnistheoreti¬ scher Probleme unter Anschluß an Kant in dieser Zeitschrift ermuntert mich, die Ansicht, die ich über die Bedeutung der Ausdrücke „Welt" und „transcendentaler Gegenstand" in Kants „Kritik der reinen Vernunft" mir gebildet habe, nicht zurückzuhalten, ja veranlaßt mich geradezu, dieselbe, wenn auch in Kürze, hier vorzulegen. „Welt" ist von dem Begriffe „Natur" eigentlich etwas verschieden dadurch, daß in der erstern der Umfang des bezeichneten Gebietes in den Vordergrund tritt, während der Begriff „Natur" auf die Qualität des betreffenden Gebietes zielt. Wenn wir von der Welt schlechthin reden, so meinen wir die sinnliche; ihr Umfang spiegelt sich wieder in ihren Lieblingsprädikaten: die ganze Welt, die große Welt, das Weltall. Sehen wir von der Summe ihres Inhalts ab und haben wir bloß ihre Art im Auge, so sagen wir lieber „Natur" und denken als Gegensatz dazu „Geist" oder je nach der Auffassung auch „Mensch" (am schärfsten wird dieser Gegensatz durch „Nicht-Ich" und „Ich" gegeben). Auf eben dieser Nüance beruht auch die Übertragbarkeit des Begriffes „Welt" auf uichtsiunliche Gebiete: wir reden von der Welt des Geistes, der Gesamtheit aller geistigen Bethätigungen und Errungenschaften, von der sittlichen Welt, der Sphäre aller sittlichen Bewährung und Nichtbewährnng. Aber wir wollen es adoptiren, daß der Ausdruck „Welt" auch da gebraucht werde, wo nur von dein Charakter des darunter Gedachten die Rede ist, daß er ausgedehnt werde auf das Nicht-Ich in jedem Sinne. Übrigens halten wir uns im folgenden ausschließlich an die sinnliche Welt. Von dieser Welt seiner Wahrnehmungen setzt der naive Mensch voraus, ohne es geradezu in den Begriff der Welt hineinzuziehen, daß sie nicht sowohl darstelle die menschliche Vorstellung eines irgendwie gegebenen Wahrnehmbaren, sondern die Eigenschaften von uus unabhängig existirender Dinge selbst. „Ich sehe einen Baum" ist ihm nicht, wie dem Kritizismus, eine bloße Wiedergabe der Erfahrung: ich habe grüne Farbenempfindungen, diese werden aufgesammelt und mit andern (gleichzeitig empfangenen) Sinneseindrückcn durch die Thätigkeit des Verstandes zu einem Gegenstande verarbeitet, dessen Unterschiedensein von anderen, ebenso gewonnenen Gegenständen ihn schließlich als Baum bezeichnen läßt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/232>, abgerufen am 08.09.2024.