Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Kleine pädagogische Ketzereien.

nun die Welt regierte, flohen erschreckt die sanfteren Musen, um erst wiederzu¬
kehren, als mit dem Königtum des Krieges Stürme friedlicheren Zeiten wichen.

Auch die Romantik, welche von Deutschland her in Frankreich Eingang
fand und welche in der Literatur neue Bahnen anstrebte, den nationalen Geist
und die christliche Religion in die Dichtung hinüberzutragen trachtete, teilte das
Schicksal aller vorausgegangenen Bewegungen; auch sie versäumte es, an die
Volksdichtung anzuknüpfen und blieb in ihren Wirkungen auf Paris beschränkt.
Seit jener Zeit ist Paris mehr und mehr der ausschließliche Mittelpunkt der
Literatur geworden. Nicht für Frankreich denkt, lebt und spricht der Franzose,
sondern für Paris giebt er sein Herzblut hin. Nicht in dem Volke aufzugehen,
wie der deutsche Dichter, sondern Paris zu gefallen ist das Streben des fran¬
zösischen Dichters. Paris ist ja Frankreich. Diese straffe Zentralisation ist
aber der Verderb der Poesie. Und nicht oft genug kann es rühmend hervor¬
gehoben werden, was auch in dieser Beziehung Deutschland seinem Staaten¬
bunde und dessen kunstliebenden Fürsten und Höfen zu danken gehabt hat. Nur
noch ein Jahrzehnt, so klagt Schure, dieses Überwiegen der Hauptstadt auf
das geistige Leben, und man wird in Frankreich keine wahre Volkspoesie mehr
kennen!




Kleine pädagogische Ketzereien.

ille, lieber Papa, gieb mir doch zehn Pfennige, ich brauche ein
neues Schreibebuch! -- Wie oft ergeht wohl im Laufe eines
Monats diese Bitte an einen Vater, der mehrere Kinder in der
Volksschule hat? Ein paarmal habe ich daraus erwiedert: Mein
guter Junge, das Papier in deinen Schreibebüchern ist herzlich
schlecht, es ist dünn, durchscheinend und blau ; ich habe aber in meinem Schreib¬
tische ein großes Packet schönes weißes und starkes Schreibepapier liegen; auch
graues und blaues habe ich zu Umschlägen; ich will dir davon geben, so viel
du brauchst, nimm Nadel und Zwirn und hefte dir selbst ein neues Schreibe¬
buch. Da heißt es aber jedesmal: Ach bitte nein, Papa, das dürfen wir nicht,
wir müssen alle ganz egale Schreibebücher haben, mit blauen Linien, zwölf
Zeilen auf der Seite; bei Mitscherlichs im Entladen an der Schnlstraße bekommt
man sie akkurat so, wie wir sie brauchen, die ganze Klasse kauft bei Mitscherlichs,
ich gehe vorbei, wenn ich in die Schule muß, bitte, gieb mir die zehn Pfennige!
(Zur Erläuterung bemerke ich, daß Herr Mitscherlich in der That an der Ecke
der Schulstraße einen Laden hat, an dessen Schaufenster eine Papptafel hängt


Kleine pädagogische Ketzereien.

nun die Welt regierte, flohen erschreckt die sanfteren Musen, um erst wiederzu¬
kehren, als mit dem Königtum des Krieges Stürme friedlicheren Zeiten wichen.

Auch die Romantik, welche von Deutschland her in Frankreich Eingang
fand und welche in der Literatur neue Bahnen anstrebte, den nationalen Geist
und die christliche Religion in die Dichtung hinüberzutragen trachtete, teilte das
Schicksal aller vorausgegangenen Bewegungen; auch sie versäumte es, an die
Volksdichtung anzuknüpfen und blieb in ihren Wirkungen auf Paris beschränkt.
Seit jener Zeit ist Paris mehr und mehr der ausschließliche Mittelpunkt der
Literatur geworden. Nicht für Frankreich denkt, lebt und spricht der Franzose,
sondern für Paris giebt er sein Herzblut hin. Nicht in dem Volke aufzugehen,
wie der deutsche Dichter, sondern Paris zu gefallen ist das Streben des fran¬
zösischen Dichters. Paris ist ja Frankreich. Diese straffe Zentralisation ist
aber der Verderb der Poesie. Und nicht oft genug kann es rühmend hervor¬
gehoben werden, was auch in dieser Beziehung Deutschland seinem Staaten¬
bunde und dessen kunstliebenden Fürsten und Höfen zu danken gehabt hat. Nur
noch ein Jahrzehnt, so klagt Schure, dieses Überwiegen der Hauptstadt auf
das geistige Leben, und man wird in Frankreich keine wahre Volkspoesie mehr
kennen!




Kleine pädagogische Ketzereien.

ille, lieber Papa, gieb mir doch zehn Pfennige, ich brauche ein
neues Schreibebuch! — Wie oft ergeht wohl im Laufe eines
Monats diese Bitte an einen Vater, der mehrere Kinder in der
Volksschule hat? Ein paarmal habe ich daraus erwiedert: Mein
guter Junge, das Papier in deinen Schreibebüchern ist herzlich
schlecht, es ist dünn, durchscheinend und blau ; ich habe aber in meinem Schreib¬
tische ein großes Packet schönes weißes und starkes Schreibepapier liegen; auch
graues und blaues habe ich zu Umschlägen; ich will dir davon geben, so viel
du brauchst, nimm Nadel und Zwirn und hefte dir selbst ein neues Schreibe¬
buch. Da heißt es aber jedesmal: Ach bitte nein, Papa, das dürfen wir nicht,
wir müssen alle ganz egale Schreibebücher haben, mit blauen Linien, zwölf
Zeilen auf der Seite; bei Mitscherlichs im Entladen an der Schnlstraße bekommt
man sie akkurat so, wie wir sie brauchen, die ganze Klasse kauft bei Mitscherlichs,
ich gehe vorbei, wenn ich in die Schule muß, bitte, gieb mir die zehn Pfennige!
(Zur Erläuterung bemerke ich, daß Herr Mitscherlich in der That an der Ecke
der Schulstraße einen Laden hat, an dessen Schaufenster eine Papptafel hängt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0698" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/152706"/>
          <fw type="header" place="top"> Kleine pädagogische Ketzereien.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2671" prev="#ID_2670"> nun die Welt regierte, flohen erschreckt die sanfteren Musen, um erst wiederzu¬<lb/>
kehren, als mit dem Königtum des Krieges Stürme friedlicheren Zeiten wichen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2672"> Auch die Romantik, welche von Deutschland her in Frankreich Eingang<lb/>
fand und welche in der Literatur neue Bahnen anstrebte, den nationalen Geist<lb/>
und die christliche Religion in die Dichtung hinüberzutragen trachtete, teilte das<lb/>
Schicksal aller vorausgegangenen Bewegungen; auch sie versäumte es, an die<lb/>
Volksdichtung anzuknüpfen und blieb in ihren Wirkungen auf Paris beschränkt.<lb/>
Seit jener Zeit ist Paris mehr und mehr der ausschließliche Mittelpunkt der<lb/>
Literatur geworden. Nicht für Frankreich denkt, lebt und spricht der Franzose,<lb/>
sondern für Paris giebt er sein Herzblut hin. Nicht in dem Volke aufzugehen,<lb/>
wie der deutsche Dichter, sondern Paris zu gefallen ist das Streben des fran¬<lb/>
zösischen Dichters. Paris ist ja Frankreich. Diese straffe Zentralisation ist<lb/>
aber der Verderb der Poesie. Und nicht oft genug kann es rühmend hervor¬<lb/>
gehoben werden, was auch in dieser Beziehung Deutschland seinem Staaten¬<lb/>
bunde und dessen kunstliebenden Fürsten und Höfen zu danken gehabt hat. Nur<lb/>
noch ein Jahrzehnt, so klagt Schure, dieses Überwiegen der Hauptstadt auf<lb/>
das geistige Leben, und man wird in Frankreich keine wahre Volkspoesie mehr<lb/>
kennen!</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Kleine pädagogische Ketzereien.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2673" next="#ID_2674"> ille, lieber Papa, gieb mir doch zehn Pfennige, ich brauche ein<lb/>
neues Schreibebuch! &#x2014; Wie oft ergeht wohl im Laufe eines<lb/>
Monats diese Bitte an einen Vater, der mehrere Kinder in der<lb/>
Volksschule hat? Ein paarmal habe ich daraus erwiedert: Mein<lb/>
guter Junge, das Papier in deinen Schreibebüchern ist herzlich<lb/>
schlecht, es ist dünn, durchscheinend und blau ; ich habe aber in meinem Schreib¬<lb/>
tische ein großes Packet schönes weißes und starkes Schreibepapier liegen; auch<lb/>
graues und blaues habe ich zu Umschlägen; ich will dir davon geben, so viel<lb/>
du brauchst, nimm Nadel und Zwirn und hefte dir selbst ein neues Schreibe¬<lb/>
buch. Da heißt es aber jedesmal: Ach bitte nein, Papa, das dürfen wir nicht,<lb/>
wir müssen alle ganz egale Schreibebücher haben, mit blauen Linien, zwölf<lb/>
Zeilen auf der Seite; bei Mitscherlichs im Entladen an der Schnlstraße bekommt<lb/>
man sie akkurat so, wie wir sie brauchen, die ganze Klasse kauft bei Mitscherlichs,<lb/>
ich gehe vorbei, wenn ich in die Schule muß, bitte, gieb mir die zehn Pfennige!<lb/>
(Zur Erläuterung bemerke ich, daß Herr Mitscherlich in der That an der Ecke<lb/>
der Schulstraße einen Laden hat, an dessen Schaufenster eine Papptafel hängt</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0698] Kleine pädagogische Ketzereien. nun die Welt regierte, flohen erschreckt die sanfteren Musen, um erst wiederzu¬ kehren, als mit dem Königtum des Krieges Stürme friedlicheren Zeiten wichen. Auch die Romantik, welche von Deutschland her in Frankreich Eingang fand und welche in der Literatur neue Bahnen anstrebte, den nationalen Geist und die christliche Religion in die Dichtung hinüberzutragen trachtete, teilte das Schicksal aller vorausgegangenen Bewegungen; auch sie versäumte es, an die Volksdichtung anzuknüpfen und blieb in ihren Wirkungen auf Paris beschränkt. Seit jener Zeit ist Paris mehr und mehr der ausschließliche Mittelpunkt der Literatur geworden. Nicht für Frankreich denkt, lebt und spricht der Franzose, sondern für Paris giebt er sein Herzblut hin. Nicht in dem Volke aufzugehen, wie der deutsche Dichter, sondern Paris zu gefallen ist das Streben des fran¬ zösischen Dichters. Paris ist ja Frankreich. Diese straffe Zentralisation ist aber der Verderb der Poesie. Und nicht oft genug kann es rühmend hervor¬ gehoben werden, was auch in dieser Beziehung Deutschland seinem Staaten¬ bunde und dessen kunstliebenden Fürsten und Höfen zu danken gehabt hat. Nur noch ein Jahrzehnt, so klagt Schure, dieses Überwiegen der Hauptstadt auf das geistige Leben, und man wird in Frankreich keine wahre Volkspoesie mehr kennen! Kleine pädagogische Ketzereien. ille, lieber Papa, gieb mir doch zehn Pfennige, ich brauche ein neues Schreibebuch! — Wie oft ergeht wohl im Laufe eines Monats diese Bitte an einen Vater, der mehrere Kinder in der Volksschule hat? Ein paarmal habe ich daraus erwiedert: Mein guter Junge, das Papier in deinen Schreibebüchern ist herzlich schlecht, es ist dünn, durchscheinend und blau ; ich habe aber in meinem Schreib¬ tische ein großes Packet schönes weißes und starkes Schreibepapier liegen; auch graues und blaues habe ich zu Umschlägen; ich will dir davon geben, so viel du brauchst, nimm Nadel und Zwirn und hefte dir selbst ein neues Schreibe¬ buch. Da heißt es aber jedesmal: Ach bitte nein, Papa, das dürfen wir nicht, wir müssen alle ganz egale Schreibebücher haben, mit blauen Linien, zwölf Zeilen auf der Seite; bei Mitscherlichs im Entladen an der Schnlstraße bekommt man sie akkurat so, wie wir sie brauchen, die ganze Klasse kauft bei Mitscherlichs, ich gehe vorbei, wenn ich in die Schule muß, bitte, gieb mir die zehn Pfennige! (Zur Erläuterung bemerke ich, daß Herr Mitscherlich in der That an der Ecke der Schulstraße einen Laden hat, an dessen Schaufenster eine Papptafel hängt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/698
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/698>, abgerufen am 22.07.2024.