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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Literatur.
Das Germanentum und seine Erben. Von Dr. I. G. Weiß. Heidelberg,
C. Winter, 1882.

Diese kleine, anregende Schrift geht von dem Gedanken ans, daß die Ro¬
manen im Verfall 'begriffen seien und das Germanentum schon dem Kulminations¬
punkte nahe sei, uach dessen Erreichung der Niedergang notwendigerweise eintreten
müsse. Der Beweis für den drohenden Niedergang des Germanentums wird auf
dein Gebiete des Kulturlebens in der übertriebenen Humanität, ans politischem
Gebiete in dem stetig wachsenden Einflüsse der Massen gesucht. Die Erben des
Germanentums sind nach des Verfassers Ansicht einerseits die slavischen Völker,
von denen uns, mögen sie auch derzeit noch "zuknuftssicher ihren Branntwein
trinken," Gefahr drohen soll, andrerseits die Mnkees, von denen zuerst auf wirt¬
schaftlichem Gebiete, später aber auch in politischer Beziehung ein Angriff zu er¬
warten sein soll. Als unser einziges Rettungsmittel bezeichnet Weiß ein dauer¬
haftes Schuh- und Trutzbüudnis der Hauptträger des Germanentums, Deutschlands,
Österreichs und Englands, dessen Möglichkeit von ihm zum Schluß noch er¬
örtert wird.

Das Schriftchen enthält eine ganze Reihe ansprechender Gedanken. Nur ist
zu bedauern, daß der Verfasser vieles nur andeutet, was weiterer Ausführung be¬
dürfte, andres als feststehend hinstellt, was einen Beweis erforderte. Auf einiges
wenige wollen wir hinweisen.

Es ist nicht geraten, ohne weiteres von dem Verfall der romanischen Nassen
zu sprechen. Ein Vergleich des jetzigen Frankreichs und Italiens mit dem von
1750 läßt uns eher ein Vorwärtsgehen als einen Niedergang erkennen. Sicherlich
aber ist von einem "Dahinsiechen" nicht die Rede. Überhaupt zeigt die Ge¬
schichte durchaus uicht im Völkerleben Wachstum, Blüte und Verfall in regelmäßiger
Reihenfolge. Es liegen Beispiele vor, daß Völker nie zu rechter Entwicklung kamen,
andre dagegen aus tiefster Auflösung sich nochmals zu nie geahnter Stärke erhoben.
Darum erscheint es immerhin noch möglich, daß sich Frankreich und Italien wieder
erheben, wie auch daß Rußland mit seiner von "abendländischer Überknltnr" durch¬
setzten Aristokratie und seinen revolutionären Tendenzen in einen Zustand versetzt
werde, der es für immer ungefährlich macht.

Sodann aber müssen wir anch mit Weiß über die Symptome rechten, welche
beweisen sollen, daß der Kulminatiouspuukt des Germanentums nahe sei. Eine
solche Auffassung widerstreitet aller Erfahrung. Wir brauchen bloß der Geschichte
der thatsächlich vernichteten Völker zu gedenken, der nltorieutalischeu Staaten, des
griechischen, des römischen und etwa noch des polnischen Volkes, wo kann man da
von übertriebener Humanität oder von dem Einflüsse der Massen sprechen? Wollten
wir wirklich diesen Symptomen in der neueren Geschichte nachgehen, so würden
wir die merkwürdige Erfahrung machen, daß nnter den europäischen Staaten die
Türkei noch am weitesten von dem Höhepunkte der Entwicklung, mithin von dem
Verfall entfernt sei, da hier jene gefährlichen Symptome gewiß am wenigsten ent¬
wickelt sind, und doch ist hier der Verfall wohl unbestreitbar.

Endlich bleibt es doch uoch fraglich, ob die Weltgeschichte uur mit einem an¬
dauernden Kampfe um die Hegemonie erfüllt sein soll. Sollte es uicht im Bereiche


Literatur.
Das Germanentum und seine Erben. Von Dr. I. G. Weiß. Heidelberg,
C. Winter, 1882.

Diese kleine, anregende Schrift geht von dem Gedanken ans, daß die Ro¬
manen im Verfall 'begriffen seien und das Germanentum schon dem Kulminations¬
punkte nahe sei, uach dessen Erreichung der Niedergang notwendigerweise eintreten
müsse. Der Beweis für den drohenden Niedergang des Germanentums wird auf
dein Gebiete des Kulturlebens in der übertriebenen Humanität, ans politischem
Gebiete in dem stetig wachsenden Einflüsse der Massen gesucht. Die Erben des
Germanentums sind nach des Verfassers Ansicht einerseits die slavischen Völker,
von denen uns, mögen sie auch derzeit noch „zuknuftssicher ihren Branntwein
trinken," Gefahr drohen soll, andrerseits die Mnkees, von denen zuerst auf wirt¬
schaftlichem Gebiete, später aber auch in politischer Beziehung ein Angriff zu er¬
warten sein soll. Als unser einziges Rettungsmittel bezeichnet Weiß ein dauer¬
haftes Schuh- und Trutzbüudnis der Hauptträger des Germanentums, Deutschlands,
Österreichs und Englands, dessen Möglichkeit von ihm zum Schluß noch er¬
örtert wird.

Das Schriftchen enthält eine ganze Reihe ansprechender Gedanken. Nur ist
zu bedauern, daß der Verfasser vieles nur andeutet, was weiterer Ausführung be¬
dürfte, andres als feststehend hinstellt, was einen Beweis erforderte. Auf einiges
wenige wollen wir hinweisen.

Es ist nicht geraten, ohne weiteres von dem Verfall der romanischen Nassen
zu sprechen. Ein Vergleich des jetzigen Frankreichs und Italiens mit dem von
1750 läßt uns eher ein Vorwärtsgehen als einen Niedergang erkennen. Sicherlich
aber ist von einem „Dahinsiechen" nicht die Rede. Überhaupt zeigt die Ge¬
schichte durchaus uicht im Völkerleben Wachstum, Blüte und Verfall in regelmäßiger
Reihenfolge. Es liegen Beispiele vor, daß Völker nie zu rechter Entwicklung kamen,
andre dagegen aus tiefster Auflösung sich nochmals zu nie geahnter Stärke erhoben.
Darum erscheint es immerhin noch möglich, daß sich Frankreich und Italien wieder
erheben, wie auch daß Rußland mit seiner von „abendländischer Überknltnr" durch¬
setzten Aristokratie und seinen revolutionären Tendenzen in einen Zustand versetzt
werde, der es für immer ungefährlich macht.

Sodann aber müssen wir anch mit Weiß über die Symptome rechten, welche
beweisen sollen, daß der Kulminatiouspuukt des Germanentums nahe sei. Eine
solche Auffassung widerstreitet aller Erfahrung. Wir brauchen bloß der Geschichte
der thatsächlich vernichteten Völker zu gedenken, der nltorieutalischeu Staaten, des
griechischen, des römischen und etwa noch des polnischen Volkes, wo kann man da
von übertriebener Humanität oder von dem Einflüsse der Massen sprechen? Wollten
wir wirklich diesen Symptomen in der neueren Geschichte nachgehen, so würden
wir die merkwürdige Erfahrung machen, daß nnter den europäischen Staaten die
Türkei noch am weitesten von dem Höhepunkte der Entwicklung, mithin von dem
Verfall entfernt sei, da hier jene gefährlichen Symptome gewiß am wenigsten ent¬
wickelt sind, und doch ist hier der Verfall wohl unbestreitbar.

Endlich bleibt es doch uoch fraglich, ob die Weltgeschichte uur mit einem an¬
dauernden Kampfe um die Hegemonie erfüllt sein soll. Sollte es uicht im Bereiche


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[0686] Literatur. Das Germanentum und seine Erben. Von Dr. I. G. Weiß. Heidelberg, C. Winter, 1882. Diese kleine, anregende Schrift geht von dem Gedanken ans, daß die Ro¬ manen im Verfall 'begriffen seien und das Germanentum schon dem Kulminations¬ punkte nahe sei, uach dessen Erreichung der Niedergang notwendigerweise eintreten müsse. Der Beweis für den drohenden Niedergang des Germanentums wird auf dein Gebiete des Kulturlebens in der übertriebenen Humanität, ans politischem Gebiete in dem stetig wachsenden Einflüsse der Massen gesucht. Die Erben des Germanentums sind nach des Verfassers Ansicht einerseits die slavischen Völker, von denen uns, mögen sie auch derzeit noch „zuknuftssicher ihren Branntwein trinken," Gefahr drohen soll, andrerseits die Mnkees, von denen zuerst auf wirt¬ schaftlichem Gebiete, später aber auch in politischer Beziehung ein Angriff zu er¬ warten sein soll. Als unser einziges Rettungsmittel bezeichnet Weiß ein dauer¬ haftes Schuh- und Trutzbüudnis der Hauptträger des Germanentums, Deutschlands, Österreichs und Englands, dessen Möglichkeit von ihm zum Schluß noch er¬ örtert wird. Das Schriftchen enthält eine ganze Reihe ansprechender Gedanken. Nur ist zu bedauern, daß der Verfasser vieles nur andeutet, was weiterer Ausführung be¬ dürfte, andres als feststehend hinstellt, was einen Beweis erforderte. Auf einiges wenige wollen wir hinweisen. Es ist nicht geraten, ohne weiteres von dem Verfall der romanischen Nassen zu sprechen. Ein Vergleich des jetzigen Frankreichs und Italiens mit dem von 1750 läßt uns eher ein Vorwärtsgehen als einen Niedergang erkennen. Sicherlich aber ist von einem „Dahinsiechen" nicht die Rede. Überhaupt zeigt die Ge¬ schichte durchaus uicht im Völkerleben Wachstum, Blüte und Verfall in regelmäßiger Reihenfolge. Es liegen Beispiele vor, daß Völker nie zu rechter Entwicklung kamen, andre dagegen aus tiefster Auflösung sich nochmals zu nie geahnter Stärke erhoben. Darum erscheint es immerhin noch möglich, daß sich Frankreich und Italien wieder erheben, wie auch daß Rußland mit seiner von „abendländischer Überknltnr" durch¬ setzten Aristokratie und seinen revolutionären Tendenzen in einen Zustand versetzt werde, der es für immer ungefährlich macht. Sodann aber müssen wir anch mit Weiß über die Symptome rechten, welche beweisen sollen, daß der Kulminatiouspuukt des Germanentums nahe sei. Eine solche Auffassung widerstreitet aller Erfahrung. Wir brauchen bloß der Geschichte der thatsächlich vernichteten Völker zu gedenken, der nltorieutalischeu Staaten, des griechischen, des römischen und etwa noch des polnischen Volkes, wo kann man da von übertriebener Humanität oder von dem Einflüsse der Massen sprechen? Wollten wir wirklich diesen Symptomen in der neueren Geschichte nachgehen, so würden wir die merkwürdige Erfahrung machen, daß nnter den europäischen Staaten die Türkei noch am weitesten von dem Höhepunkte der Entwicklung, mithin von dem Verfall entfernt sei, da hier jene gefährlichen Symptome gewiß am wenigsten ent¬ wickelt sind, und doch ist hier der Verfall wohl unbestreitbar. Endlich bleibt es doch uoch fraglich, ob die Weltgeschichte uur mit einem an¬ dauernden Kampfe um die Hegemonie erfüllt sein soll. Sollte es uicht im Bereiche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/686>, abgerufen am 29.06.2024.