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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Der jüngste Tag.

brocheu. Aber ihre Flügel waren dabei zerrissen worden, und ihre Füße waren
von den feinen Strähnen gefesselt, die noch daran hingen. Sie konnte sie nicht
abstreifen. Wollte ihr nienuind helfen, wie sie ja oft selbst die Spinnengewebe
von den Füßen von Fliegen ans bloßen: Mitleid abgezupft hatte? Und den
ganzen Tag hindurch verfiel sie immer nud immer wieder in diesen Zustand des
Halbbewnßtseins und fragte immer und immer wieder, ob ihr denn niemand
helfen wolle, ans den Maschen herauszukommen.

Gegen Abend brachte ihre Mutter ihr eine Tasse Thee und ein Stück ge¬
rösteten Weißbrods, und zum erstenmale im Leben der Tochter, soweit sich diese
zurückerinnern konnte, machte sie einen Versuch, ihr ein wenig Zärtlichkeit zu
zeigen. Es war ein ungeschickter Versuch; denn wenn der große Abgrund zwischen
Mutter und Kind sich einmal befestigt hat, so läßt er sich nnr schwer überbrücke,,.
Und indem sie sich in der neuen Rolle unbehaglich fühlte, ließ Frau Anderson
sie fallen und nahm ihr früheres Wesen wieder um, indem sie, im Begriffe, die
Thür zu schließen, bemerkte, daß sie sich freue, daß Julia "Vernunft annehme
und den rechten Weg einschlüge."

Julia sah in dieser Bemerkung zuerst nichts besonderes. Aber nach einer
Weile fiel ihr ein, daß Hnmphreys ihrer Mutter einiges von dem, was in der
vergangenen Nacht vorgegangen war, erzählt haben mußte, etwas, worauf jene
Andeutung sich gründete. Dann verfiel sie in das frühere starre Vorsichhin-
brüten und war in dem früheren Spinnengewebe, und siehe, da gewahrte sie
auch die frühere Spinne mit dem abgegrenzten Lächeln, dem Schnurrbart, den
Strippen und deu Petschaften! Und das Tier versuchte sie festzumachen, und sie
sagte "Ja." Und sie konnte deutlich das kleine Wort sehen. Die Spinne erfaßte
es und verspann es zu einem Gewebe und fesselte sie damit. Und sie konnte
alle die andern Gewebe durchbrechen, nur das nicht, welches aus diesem einzigen
Wörtlein gesponnen war, das ihren Lippen entflohen. Das heftete sich an sie,
sodaß sie weder fliegen noch gehen konnte. Angust konnte ihr nicht helsen --
er wollte nicht kommen. Ihre Mutter half der Spinne. In diesem Augen¬
blicke kam gerade Cynthh Ann mit ihrem Besen herein. Ob sie sie wohl sehen
und sie freifegen würde? Sie versuchte, sie zu rufen, aber ach! sie war ja eine
Fliege. Sie versuchte, summend aufzufliegen, aber ihre Flügel waren fest in
das Gespinnst verwebt. Sie war am Ersticken, und sie konnte sich nicht regen.
Die Spinne lächelte sie an!

Dann erwachte sie schaudernd. Es war Mitternacht vorüber.




Fünfzehntes Kapitel.
Das Gewebe wird zerrissen.

Die Armut, sagt B6ranger, ist allezeit abergläubisch. So ist der Mensch
aber immer, wenn er aufs äußerste gebracht ist. Juliens gesunde Körperbe-


Der jüngste Tag.

brocheu. Aber ihre Flügel waren dabei zerrissen worden, und ihre Füße waren
von den feinen Strähnen gefesselt, die noch daran hingen. Sie konnte sie nicht
abstreifen. Wollte ihr nienuind helfen, wie sie ja oft selbst die Spinnengewebe
von den Füßen von Fliegen ans bloßen: Mitleid abgezupft hatte? Und den
ganzen Tag hindurch verfiel sie immer nud immer wieder in diesen Zustand des
Halbbewnßtseins und fragte immer und immer wieder, ob ihr denn niemand
helfen wolle, ans den Maschen herauszukommen.

Gegen Abend brachte ihre Mutter ihr eine Tasse Thee und ein Stück ge¬
rösteten Weißbrods, und zum erstenmale im Leben der Tochter, soweit sich diese
zurückerinnern konnte, machte sie einen Versuch, ihr ein wenig Zärtlichkeit zu
zeigen. Es war ein ungeschickter Versuch; denn wenn der große Abgrund zwischen
Mutter und Kind sich einmal befestigt hat, so läßt er sich nnr schwer überbrücke,,.
Und indem sie sich in der neuen Rolle unbehaglich fühlte, ließ Frau Anderson
sie fallen und nahm ihr früheres Wesen wieder um, indem sie, im Begriffe, die
Thür zu schließen, bemerkte, daß sie sich freue, daß Julia „Vernunft annehme
und den rechten Weg einschlüge."

Julia sah in dieser Bemerkung zuerst nichts besonderes. Aber nach einer
Weile fiel ihr ein, daß Hnmphreys ihrer Mutter einiges von dem, was in der
vergangenen Nacht vorgegangen war, erzählt haben mußte, etwas, worauf jene
Andeutung sich gründete. Dann verfiel sie in das frühere starre Vorsichhin-
brüten und war in dem früheren Spinnengewebe, und siehe, da gewahrte sie
auch die frühere Spinne mit dem abgegrenzten Lächeln, dem Schnurrbart, den
Strippen und deu Petschaften! Und das Tier versuchte sie festzumachen, und sie
sagte „Ja." Und sie konnte deutlich das kleine Wort sehen. Die Spinne erfaßte
es und verspann es zu einem Gewebe und fesselte sie damit. Und sie konnte
alle die andern Gewebe durchbrechen, nur das nicht, welches aus diesem einzigen
Wörtlein gesponnen war, das ihren Lippen entflohen. Das heftete sich an sie,
sodaß sie weder fliegen noch gehen konnte. Angust konnte ihr nicht helsen —
er wollte nicht kommen. Ihre Mutter half der Spinne. In diesem Augen¬
blicke kam gerade Cynthh Ann mit ihrem Besen herein. Ob sie sie wohl sehen
und sie freifegen würde? Sie versuchte, sie zu rufen, aber ach! sie war ja eine
Fliege. Sie versuchte, summend aufzufliegen, aber ihre Flügel waren fest in
das Gespinnst verwebt. Sie war am Ersticken, und sie konnte sich nicht regen.
Die Spinne lächelte sie an!

Dann erwachte sie schaudernd. Es war Mitternacht vorüber.




Fünfzehntes Kapitel.
Das Gewebe wird zerrissen.

Die Armut, sagt B6ranger, ist allezeit abergläubisch. So ist der Mensch
aber immer, wenn er aufs äußerste gebracht ist. Juliens gesunde Körperbe-


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[0437] Der jüngste Tag. brocheu. Aber ihre Flügel waren dabei zerrissen worden, und ihre Füße waren von den feinen Strähnen gefesselt, die noch daran hingen. Sie konnte sie nicht abstreifen. Wollte ihr nienuind helfen, wie sie ja oft selbst die Spinnengewebe von den Füßen von Fliegen ans bloßen: Mitleid abgezupft hatte? Und den ganzen Tag hindurch verfiel sie immer nud immer wieder in diesen Zustand des Halbbewnßtseins und fragte immer und immer wieder, ob ihr denn niemand helfen wolle, ans den Maschen herauszukommen. Gegen Abend brachte ihre Mutter ihr eine Tasse Thee und ein Stück ge¬ rösteten Weißbrods, und zum erstenmale im Leben der Tochter, soweit sich diese zurückerinnern konnte, machte sie einen Versuch, ihr ein wenig Zärtlichkeit zu zeigen. Es war ein ungeschickter Versuch; denn wenn der große Abgrund zwischen Mutter und Kind sich einmal befestigt hat, so läßt er sich nnr schwer überbrücke,,. Und indem sie sich in der neuen Rolle unbehaglich fühlte, ließ Frau Anderson sie fallen und nahm ihr früheres Wesen wieder um, indem sie, im Begriffe, die Thür zu schließen, bemerkte, daß sie sich freue, daß Julia „Vernunft annehme und den rechten Weg einschlüge." Julia sah in dieser Bemerkung zuerst nichts besonderes. Aber nach einer Weile fiel ihr ein, daß Hnmphreys ihrer Mutter einiges von dem, was in der vergangenen Nacht vorgegangen war, erzählt haben mußte, etwas, worauf jene Andeutung sich gründete. Dann verfiel sie in das frühere starre Vorsichhin- brüten und war in dem früheren Spinnengewebe, und siehe, da gewahrte sie auch die frühere Spinne mit dem abgegrenzten Lächeln, dem Schnurrbart, den Strippen und deu Petschaften! Und das Tier versuchte sie festzumachen, und sie sagte „Ja." Und sie konnte deutlich das kleine Wort sehen. Die Spinne erfaßte es und verspann es zu einem Gewebe und fesselte sie damit. Und sie konnte alle die andern Gewebe durchbrechen, nur das nicht, welches aus diesem einzigen Wörtlein gesponnen war, das ihren Lippen entflohen. Das heftete sich an sie, sodaß sie weder fliegen noch gehen konnte. Angust konnte ihr nicht helsen — er wollte nicht kommen. Ihre Mutter half der Spinne. In diesem Augen¬ blicke kam gerade Cynthh Ann mit ihrem Besen herein. Ob sie sie wohl sehen und sie freifegen würde? Sie versuchte, sie zu rufen, aber ach! sie war ja eine Fliege. Sie versuchte, summend aufzufliegen, aber ihre Flügel waren fest in das Gespinnst verwebt. Sie war am Ersticken, und sie konnte sich nicht regen. Die Spinne lächelte sie an! Dann erwachte sie schaudernd. Es war Mitternacht vorüber. Fünfzehntes Kapitel. Das Gewebe wird zerrissen. Die Armut, sagt B6ranger, ist allezeit abergläubisch. So ist der Mensch aber immer, wenn er aufs äußerste gebracht ist. Juliens gesunde Körperbe-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/437>, abgerufen am 29.06.2024.