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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Ohne Ideale.

nicht unterdrücken können. In Oberschlesien sowie an vielen Orten Mittel- und
Niederschlesiens, wo keine polizeiliche Beschränkung erfolgte, ist das "Svmmern-
gehen" noch heute bei Kindern aller Stände üblich.*)

Zwei Ursachen haben zusammengewirkt, dem Volke seine alten Feste zu
rauben oder zu verleiden: einmal die griesgrämliche Langeweile der Polizei, welche
alles verbot, was sie nicht verstand und wodurch sie in ihrer grilligen, galligen
Laune gestört wurde; sodann und noch mehr die sogenannten "Aufgeklärten,"
die alles als "alte Dummheit" bezeichneten, wofür sie kein Verständnis hatten und
was in ihrem politischen Alphabet nicht enthalten war. Für dumm aber wollte
keiner gelten, und so wurden die niedern Stände gegen die Volksfeste nicht
nur gleichgiltig, sondern begannen sich sogar ihrer zu schämen. Einen Ersatz
dasür bot das Politisiren, das Modesache wurde.

Die Menschen haben inzwischen vieles gelernt und erreicht, fröhlicher aber und
damit glücklicher als ehemals sind sie nicht geworden. Möchten doch unsre Volks-
bildnngsvereine es für der Mühe wert halten, dem Volke das Verständnis für
seine alten, echten Volksfeste und den Geschmack daran wieder beizubringen.
Sie würden sich dadurch ein großes Verdienst erwerben.




Ohne Ideale.

l
e höchste Aufgabe des Romans bleibt es doch zweifellos (und
es thut not, sich dieser Wahrheit angesichts der heillosen Über-
füllung des Büchermarktes mit allerlei Abarten des Romans,
immer wieder bewußt zu werden), die Gegenwart unsers Volkes,
die bunte Mannichfaltigkeit ihrer Erscheinungen, die Verschieden¬
heit ihrer geistigen Bestrebungen, den Widerstreit der entgegenstehenden poli¬
tischen, religiösen, sittlichen Weltanschauungen im Spiegelbilde der Dichtung, zur
Darstellung zu bringen.

Die Fülle dieses Stoffes in ihrer Gesammtheit zu umfassen, wird dem
einzelnen immer unmöglich sein. Der Dichter wird aber dem höchsten Ziele um



Eine ähnliche Sitte scheint sich noch in Halle an der Saale erhalten zu haben. Als
wir vor zwei oder drei Jahren am Johannistage von Halle nach Giebichenstein gingen, liefen
uns auf Schritt und Tritt Kinder in den Weg, die auf einem Tellerchen ein paar Blumen
liegen hatten und zum Geschenk anboten, wofür sie natürlich als Gegengabe von den Er¬
wachsenen ein kleines Geldstück erhielten. Auch hier scheint eine alte schöne Johaunistags-
sittc zur Bettelei herabgesunken zu sein. Aber man schone und schütze auch diesen kümmer¬
D. Red. lichen Rest!
Grenzboten III. 1882. 4
Ohne Ideale.

nicht unterdrücken können. In Oberschlesien sowie an vielen Orten Mittel- und
Niederschlesiens, wo keine polizeiliche Beschränkung erfolgte, ist das „Svmmern-
gehen" noch heute bei Kindern aller Stände üblich.*)

Zwei Ursachen haben zusammengewirkt, dem Volke seine alten Feste zu
rauben oder zu verleiden: einmal die griesgrämliche Langeweile der Polizei, welche
alles verbot, was sie nicht verstand und wodurch sie in ihrer grilligen, galligen
Laune gestört wurde; sodann und noch mehr die sogenannten „Aufgeklärten,"
die alles als „alte Dummheit" bezeichneten, wofür sie kein Verständnis hatten und
was in ihrem politischen Alphabet nicht enthalten war. Für dumm aber wollte
keiner gelten, und so wurden die niedern Stände gegen die Volksfeste nicht
nur gleichgiltig, sondern begannen sich sogar ihrer zu schämen. Einen Ersatz
dasür bot das Politisiren, das Modesache wurde.

Die Menschen haben inzwischen vieles gelernt und erreicht, fröhlicher aber und
damit glücklicher als ehemals sind sie nicht geworden. Möchten doch unsre Volks-
bildnngsvereine es für der Mühe wert halten, dem Volke das Verständnis für
seine alten, echten Volksfeste und den Geschmack daran wieder beizubringen.
Sie würden sich dadurch ein großes Verdienst erwerben.




Ohne Ideale.

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e höchste Aufgabe des Romans bleibt es doch zweifellos (und
es thut not, sich dieser Wahrheit angesichts der heillosen Über-
füllung des Büchermarktes mit allerlei Abarten des Romans,
immer wieder bewußt zu werden), die Gegenwart unsers Volkes,
die bunte Mannichfaltigkeit ihrer Erscheinungen, die Verschieden¬
heit ihrer geistigen Bestrebungen, den Widerstreit der entgegenstehenden poli¬
tischen, religiösen, sittlichen Weltanschauungen im Spiegelbilde der Dichtung, zur
Darstellung zu bringen.

Die Fülle dieses Stoffes in ihrer Gesammtheit zu umfassen, wird dem
einzelnen immer unmöglich sein. Der Dichter wird aber dem höchsten Ziele um



Eine ähnliche Sitte scheint sich noch in Halle an der Saale erhalten zu haben. Als
wir vor zwei oder drei Jahren am Johannistage von Halle nach Giebichenstein gingen, liefen
uns auf Schritt und Tritt Kinder in den Weg, die auf einem Tellerchen ein paar Blumen
liegen hatten und zum Geschenk anboten, wofür sie natürlich als Gegengabe von den Er¬
wachsenen ein kleines Geldstück erhielten. Auch hier scheint eine alte schöne Johaunistags-
sittc zur Bettelei herabgesunken zu sein. Aber man schone und schütze auch diesen kümmer¬
D. Red. lichen Rest!
Grenzboten III. 1882. 4
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[0033] Ohne Ideale. nicht unterdrücken können. In Oberschlesien sowie an vielen Orten Mittel- und Niederschlesiens, wo keine polizeiliche Beschränkung erfolgte, ist das „Svmmern- gehen" noch heute bei Kindern aller Stände üblich.*) Zwei Ursachen haben zusammengewirkt, dem Volke seine alten Feste zu rauben oder zu verleiden: einmal die griesgrämliche Langeweile der Polizei, welche alles verbot, was sie nicht verstand und wodurch sie in ihrer grilligen, galligen Laune gestört wurde; sodann und noch mehr die sogenannten „Aufgeklärten," die alles als „alte Dummheit" bezeichneten, wofür sie kein Verständnis hatten und was in ihrem politischen Alphabet nicht enthalten war. Für dumm aber wollte keiner gelten, und so wurden die niedern Stände gegen die Volksfeste nicht nur gleichgiltig, sondern begannen sich sogar ihrer zu schämen. Einen Ersatz dasür bot das Politisiren, das Modesache wurde. Die Menschen haben inzwischen vieles gelernt und erreicht, fröhlicher aber und damit glücklicher als ehemals sind sie nicht geworden. Möchten doch unsre Volks- bildnngsvereine es für der Mühe wert halten, dem Volke das Verständnis für seine alten, echten Volksfeste und den Geschmack daran wieder beizubringen. Sie würden sich dadurch ein großes Verdienst erwerben. Ohne Ideale. l e höchste Aufgabe des Romans bleibt es doch zweifellos (und es thut not, sich dieser Wahrheit angesichts der heillosen Über- füllung des Büchermarktes mit allerlei Abarten des Romans, immer wieder bewußt zu werden), die Gegenwart unsers Volkes, die bunte Mannichfaltigkeit ihrer Erscheinungen, die Verschieden¬ heit ihrer geistigen Bestrebungen, den Widerstreit der entgegenstehenden poli¬ tischen, religiösen, sittlichen Weltanschauungen im Spiegelbilde der Dichtung, zur Darstellung zu bringen. Die Fülle dieses Stoffes in ihrer Gesammtheit zu umfassen, wird dem einzelnen immer unmöglich sein. Der Dichter wird aber dem höchsten Ziele um Eine ähnliche Sitte scheint sich noch in Halle an der Saale erhalten zu haben. Als wir vor zwei oder drei Jahren am Johannistage von Halle nach Giebichenstein gingen, liefen uns auf Schritt und Tritt Kinder in den Weg, die auf einem Tellerchen ein paar Blumen liegen hatten und zum Geschenk anboten, wofür sie natürlich als Gegengabe von den Er¬ wachsenen ein kleines Geldstück erhielten. Auch hier scheint eine alte schöne Johaunistags- sittc zur Bettelei herabgesunken zu sein. Aber man schone und schütze auch diesen kümmer¬ D. Red. lichen Rest! Grenzboten III. 1882. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/33>, abgerufen am 29.06.2024.