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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal.

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LommermLrchen.

Märchenerzähler nur gar zu oft von seiner Phantasie spazieren führen, ohne
nach einem bestimmten Ziele zu gehen, aber auch ohne zum Ausgangspunkte
zurückzukehren. Ermüdet die Phantasie, so wird der Spaziergang an einer be¬
liebigen Stelle abgebrochen. Baumbachs Märchen halten sich im ganzen auch
von dieser Schwäche frei. Einzelne freilich entbehren auch bei ihm der Ab-
rundung oder der Pointe. Ein Geschichtchen wie der "Kobold im Keller" ist
nicht viel mehr als ein etwas feinerer Bicrzeitungsscherz. Die Geschichte von
den beiden Knaben im "Goldbaum", die sich später im Leben als Dichter und
Verlagsbuchhändler gegenüberstehen, oder die von "Theodelinde", welche die Ent¬
stehung der Blaustrümpfe erklären soll, münden trivial, einfach weil sie in die
Prosa ciuslanfen. In "Schleierweiß", wo schon das späte Einsetzen des Mär¬
chens etwas auffälliges hat, wirkt der Schluß geradezu- verblüffend. Der Frei¬
schütz, der gewettet hat, daß er auf so und so viel Schritt mit drei Kugeln die
drei Blätter eines Kleeblattes treffen will, gewinnt doch thatsächlich seine Wette.
Freilich sitzt noch ein Blatt am Stiel, weil die Försterstochter ein vierblättriges
Kleeblatt ans Thor geheftet hat, das ihr die gute Ziege Schleierweiß hat suchen
helfen. Aber, fragt man, ist dieses wichtige, verhüngnißvollc Ziel denn nicht
vorher von Hand zu Hand gegangen? Wo hat der dumme Teufel von Frei¬
schütz denn seine Augen gehabt? Die Ueberlistnng ist doch gar zu plump. Die
meisten andern Geschichten aber runden sich befriedigend ab, oder sie haben eine
Art von epigrammatischem Schluß, um deswillen das Märchen gebaut und auf
den es zugespitzt scheint, ohne daß man im Verlaufe der Geschichte selbst viel
davon merkte; die Erzählung bleibt spannend bis ans Ende, weil der Erzähler
der Schlußwenduug sehr hübsch den Charakter des Beiläufigen und nachträg¬
lichen zu geben gewußt hat. So, wenn er im "Wasser des Vergessens", einem
Märchen, das im Grunde den verständigen Gedanken ausführt, daß tüchtige Ar¬
beit am besten über thörichten Liebesgram hinweghelfe, schließlich scheinbar ganz
nebenbei die Entstehung des Vergißmeinnichts oder in den "Teufeln ans der Him-
melswiesc" die Entstehung der Sternblumen erklärt.

Im folgenden theilen wir zwei von Baumbachs Märchen wörtlich mit, die
manches von dem Gesagten näher illustriren werden, ein ernstes und ein lustiges.

Die Buche.

Es stand im Wald eine alte Buche. Ihren Wipfel hatte der Blitz zerschmettert,
ihre Seite war hohl, und große Schwämme wuchsen auf ihrer Rinde. Sie war
die Arachne eines zahlreichen Geschlechts, aber sie hatte alle ihre Kinder, sobald sie
nstnrkt waren, unter den Streichen der Holzaxt fallen gesehen, und mir eine Tochter
war ihr geblieben. Das war eine junge Buche mit glatter Rinde und himmel-
anstrebendcr Krone und erst achtzig Jahre alt. Das sind bei den Waldbäumen
die sogenannten besten Jahre.

Die alte Buche trieb noch in jedem Frühling Blätter und Sprossen, aber sie
fühlte, daß es mit ihrem Leben auf die Neige ging, denn sie hielt sich nur noch


LommermLrchen.

Märchenerzähler nur gar zu oft von seiner Phantasie spazieren führen, ohne
nach einem bestimmten Ziele zu gehen, aber auch ohne zum Ausgangspunkte
zurückzukehren. Ermüdet die Phantasie, so wird der Spaziergang an einer be¬
liebigen Stelle abgebrochen. Baumbachs Märchen halten sich im ganzen auch
von dieser Schwäche frei. Einzelne freilich entbehren auch bei ihm der Ab-
rundung oder der Pointe. Ein Geschichtchen wie der „Kobold im Keller" ist
nicht viel mehr als ein etwas feinerer Bicrzeitungsscherz. Die Geschichte von
den beiden Knaben im „Goldbaum", die sich später im Leben als Dichter und
Verlagsbuchhändler gegenüberstehen, oder die von „Theodelinde", welche die Ent¬
stehung der Blaustrümpfe erklären soll, münden trivial, einfach weil sie in die
Prosa ciuslanfen. In „Schleierweiß", wo schon das späte Einsetzen des Mär¬
chens etwas auffälliges hat, wirkt der Schluß geradezu- verblüffend. Der Frei¬
schütz, der gewettet hat, daß er auf so und so viel Schritt mit drei Kugeln die
drei Blätter eines Kleeblattes treffen will, gewinnt doch thatsächlich seine Wette.
Freilich sitzt noch ein Blatt am Stiel, weil die Försterstochter ein vierblättriges
Kleeblatt ans Thor geheftet hat, das ihr die gute Ziege Schleierweiß hat suchen
helfen. Aber, fragt man, ist dieses wichtige, verhüngnißvollc Ziel denn nicht
vorher von Hand zu Hand gegangen? Wo hat der dumme Teufel von Frei¬
schütz denn seine Augen gehabt? Die Ueberlistnng ist doch gar zu plump. Die
meisten andern Geschichten aber runden sich befriedigend ab, oder sie haben eine
Art von epigrammatischem Schluß, um deswillen das Märchen gebaut und auf
den es zugespitzt scheint, ohne daß man im Verlaufe der Geschichte selbst viel
davon merkte; die Erzählung bleibt spannend bis ans Ende, weil der Erzähler
der Schlußwenduug sehr hübsch den Charakter des Beiläufigen und nachträg¬
lichen zu geben gewußt hat. So, wenn er im „Wasser des Vergessens", einem
Märchen, das im Grunde den verständigen Gedanken ausführt, daß tüchtige Ar¬
beit am besten über thörichten Liebesgram hinweghelfe, schließlich scheinbar ganz
nebenbei die Entstehung des Vergißmeinnichts oder in den „Teufeln ans der Him-
melswiesc" die Entstehung der Sternblumen erklärt.

Im folgenden theilen wir zwei von Baumbachs Märchen wörtlich mit, die
manches von dem Gesagten näher illustriren werden, ein ernstes und ein lustiges.

Die Buche.

Es stand im Wald eine alte Buche. Ihren Wipfel hatte der Blitz zerschmettert,
ihre Seite war hohl, und große Schwämme wuchsen auf ihrer Rinde. Sie war
die Arachne eines zahlreichen Geschlechts, aber sie hatte alle ihre Kinder, sobald sie
nstnrkt waren, unter den Streichen der Holzaxt fallen gesehen, und mir eine Tochter
war ihr geblieben. Das war eine junge Buche mit glatter Rinde und himmel-
anstrebendcr Krone und erst achtzig Jahre alt. Das sind bei den Waldbäumen
die sogenannten besten Jahre.

Die alte Buche trieb noch in jedem Frühling Blätter und Sprossen, aber sie
fühlte, daß es mit ihrem Leben auf die Neige ging, denn sie hielt sich nur noch


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[0127] LommermLrchen. Märchenerzähler nur gar zu oft von seiner Phantasie spazieren führen, ohne nach einem bestimmten Ziele zu gehen, aber auch ohne zum Ausgangspunkte zurückzukehren. Ermüdet die Phantasie, so wird der Spaziergang an einer be¬ liebigen Stelle abgebrochen. Baumbachs Märchen halten sich im ganzen auch von dieser Schwäche frei. Einzelne freilich entbehren auch bei ihm der Ab- rundung oder der Pointe. Ein Geschichtchen wie der „Kobold im Keller" ist nicht viel mehr als ein etwas feinerer Bicrzeitungsscherz. Die Geschichte von den beiden Knaben im „Goldbaum", die sich später im Leben als Dichter und Verlagsbuchhändler gegenüberstehen, oder die von „Theodelinde", welche die Ent¬ stehung der Blaustrümpfe erklären soll, münden trivial, einfach weil sie in die Prosa ciuslanfen. In „Schleierweiß", wo schon das späte Einsetzen des Mär¬ chens etwas auffälliges hat, wirkt der Schluß geradezu- verblüffend. Der Frei¬ schütz, der gewettet hat, daß er auf so und so viel Schritt mit drei Kugeln die drei Blätter eines Kleeblattes treffen will, gewinnt doch thatsächlich seine Wette. Freilich sitzt noch ein Blatt am Stiel, weil die Försterstochter ein vierblättriges Kleeblatt ans Thor geheftet hat, das ihr die gute Ziege Schleierweiß hat suchen helfen. Aber, fragt man, ist dieses wichtige, verhüngnißvollc Ziel denn nicht vorher von Hand zu Hand gegangen? Wo hat der dumme Teufel von Frei¬ schütz denn seine Augen gehabt? Die Ueberlistnng ist doch gar zu plump. Die meisten andern Geschichten aber runden sich befriedigend ab, oder sie haben eine Art von epigrammatischem Schluß, um deswillen das Märchen gebaut und auf den es zugespitzt scheint, ohne daß man im Verlaufe der Geschichte selbst viel davon merkte; die Erzählung bleibt spannend bis ans Ende, weil der Erzähler der Schlußwenduug sehr hübsch den Charakter des Beiläufigen und nachträg¬ lichen zu geben gewußt hat. So, wenn er im „Wasser des Vergessens", einem Märchen, das im Grunde den verständigen Gedanken ausführt, daß tüchtige Ar¬ beit am besten über thörichten Liebesgram hinweghelfe, schließlich scheinbar ganz nebenbei die Entstehung des Vergißmeinnichts oder in den „Teufeln ans der Him- melswiesc" die Entstehung der Sternblumen erklärt. Im folgenden theilen wir zwei von Baumbachs Märchen wörtlich mit, die manches von dem Gesagten näher illustriren werden, ein ernstes und ein lustiges. Die Buche. Es stand im Wald eine alte Buche. Ihren Wipfel hatte der Blitz zerschmettert, ihre Seite war hohl, und große Schwämme wuchsen auf ihrer Rinde. Sie war die Arachne eines zahlreichen Geschlechts, aber sie hatte alle ihre Kinder, sobald sie nstnrkt waren, unter den Streichen der Holzaxt fallen gesehen, und mir eine Tochter war ihr geblieben. Das war eine junge Buche mit glatter Rinde und himmel- anstrebendcr Krone und erst achtzig Jahre alt. Das sind bei den Waldbäumen die sogenannten besten Jahre. Die alte Buche trieb noch in jedem Frühling Blätter und Sprossen, aber sie fühlte, daß es mit ihrem Leben auf die Neige ging, denn sie hielt sich nur noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157968/127>, abgerufen am 01.09.2024.