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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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welche angefeindet werden. Im spätern Leben treibt die eingeborne Regsamkeit
des Geistes viele Juden zu autodidaktischen weitern Studien. Aber wieder ist
es ausschließlich der Talmud, aus dem sie schöpfen. Dahinein sich immer tiefer
und tiefer zu versenken, ist der höchste Genuß, die höchste Weisheit, der höchste
Ruhm des Juden. Spricht man mit einem Juden von einiger Belesenheit über
den Talmud, so wird man gerührt von dem hohen Entzücken, der tiefen Ver¬
ehrung, welche auch der äußerlich Armseligste äußert. "So tief, so tief ist der
Talmud -- sagte mir einer -- da kann man sein Leben lang immer hinab¬
steigen und findet den Grund doch niemals." Und wie sollte diesen scharfen,
dialektisch und speculativ angelegten Geist, diesen nüchtern und praktisch gebor-
nen Verstand des Juden der Talmud nicht mächtig erfassen, der das Werk einer
endlosen Reihe von Denkern desselben Geistes und Verstandes ist? Wie sollte
solch ein armer Jude, der niemals etwas von Newton oder Shakespeare, von
Humboldt oder Cuvier, von Columbus oder Voltaire gehört und doch mit den
Fähigkeiten ausgerüstet ist, den großen Wegen des Menschengeistes zu folgen,
nicht hingerissen werden von diesem für ihn ersten und einzigen gewaltigen
Werke menschlichen Scharfsinnes und erhabener Hingebung an die Welt der Ideen?

(Schluß folgt.)




Aus Karl Woermanns Kunst- und Naturskizzen.*)
2. Sevilla.

Sevilla, den 23. März 1879. "Nach Sevilla, nach Sevilla" heißt es
in einem alten Liede. "Nach Sevilla, nach Sevilla!" rief jetzt auch alles in
uns. Wir sehnen uns darnach, diese vielgepriesene Stadt kennen zu lernen,
Spaniens atlantische Hafenstadt am Guadalquivir, Spaniens erste Kunststadt,
die Velazquez und Murillo geboren, Spaniens schönste Stadt, von der die
Dichter singen und selbst nüchterne Reisende schwärmen. Noch vor einigen
Tagen sagte uns ein deutscher Offizier, der zu seinem Vergnügen reiste: "Die
einzige spanische Stadt, nach der ich Sehnsucht haben werde, ist Sevilla." Die
Spanier, mit denen wir uns gelegentlich über die Freuden und Leiden der
spanischen Städte unterhalten, sagen stets: "Warten Sie nur, bis Sie Sevilla



D. Red, ") Vgl, die Anmerkung im vorigen Hefte.

welche angefeindet werden. Im spätern Leben treibt die eingeborne Regsamkeit
des Geistes viele Juden zu autodidaktischen weitern Studien. Aber wieder ist
es ausschließlich der Talmud, aus dem sie schöpfen. Dahinein sich immer tiefer
und tiefer zu versenken, ist der höchste Genuß, die höchste Weisheit, der höchste
Ruhm des Juden. Spricht man mit einem Juden von einiger Belesenheit über
den Talmud, so wird man gerührt von dem hohen Entzücken, der tiefen Ver¬
ehrung, welche auch der äußerlich Armseligste äußert. „So tief, so tief ist der
Talmud — sagte mir einer — da kann man sein Leben lang immer hinab¬
steigen und findet den Grund doch niemals." Und wie sollte diesen scharfen,
dialektisch und speculativ angelegten Geist, diesen nüchtern und praktisch gebor-
nen Verstand des Juden der Talmud nicht mächtig erfassen, der das Werk einer
endlosen Reihe von Denkern desselben Geistes und Verstandes ist? Wie sollte
solch ein armer Jude, der niemals etwas von Newton oder Shakespeare, von
Humboldt oder Cuvier, von Columbus oder Voltaire gehört und doch mit den
Fähigkeiten ausgerüstet ist, den großen Wegen des Menschengeistes zu folgen,
nicht hingerissen werden von diesem für ihn ersten und einzigen gewaltigen
Werke menschlichen Scharfsinnes und erhabener Hingebung an die Welt der Ideen?

(Schluß folgt.)




Aus Karl Woermanns Kunst- und Naturskizzen.*)
2. Sevilla.

Sevilla, den 23. März 1879. „Nach Sevilla, nach Sevilla" heißt es
in einem alten Liede. „Nach Sevilla, nach Sevilla!" rief jetzt auch alles in
uns. Wir sehnen uns darnach, diese vielgepriesene Stadt kennen zu lernen,
Spaniens atlantische Hafenstadt am Guadalquivir, Spaniens erste Kunststadt,
die Velazquez und Murillo geboren, Spaniens schönste Stadt, von der die
Dichter singen und selbst nüchterne Reisende schwärmen. Noch vor einigen
Tagen sagte uns ein deutscher Offizier, der zu seinem Vergnügen reiste: „Die
einzige spanische Stadt, nach der ich Sehnsucht haben werde, ist Sevilla." Die
Spanier, mit denen wir uns gelegentlich über die Freuden und Leiden der
spanischen Städte unterhalten, sagen stets: „Warten Sie nur, bis Sie Sevilla



D. Red, ") Vgl, die Anmerkung im vorigen Hefte.
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[0270] welche angefeindet werden. Im spätern Leben treibt die eingeborne Regsamkeit des Geistes viele Juden zu autodidaktischen weitern Studien. Aber wieder ist es ausschließlich der Talmud, aus dem sie schöpfen. Dahinein sich immer tiefer und tiefer zu versenken, ist der höchste Genuß, die höchste Weisheit, der höchste Ruhm des Juden. Spricht man mit einem Juden von einiger Belesenheit über den Talmud, so wird man gerührt von dem hohen Entzücken, der tiefen Ver¬ ehrung, welche auch der äußerlich Armseligste äußert. „So tief, so tief ist der Talmud — sagte mir einer — da kann man sein Leben lang immer hinab¬ steigen und findet den Grund doch niemals." Und wie sollte diesen scharfen, dialektisch und speculativ angelegten Geist, diesen nüchtern und praktisch gebor- nen Verstand des Juden der Talmud nicht mächtig erfassen, der das Werk einer endlosen Reihe von Denkern desselben Geistes und Verstandes ist? Wie sollte solch ein armer Jude, der niemals etwas von Newton oder Shakespeare, von Humboldt oder Cuvier, von Columbus oder Voltaire gehört und doch mit den Fähigkeiten ausgerüstet ist, den großen Wegen des Menschengeistes zu folgen, nicht hingerissen werden von diesem für ihn ersten und einzigen gewaltigen Werke menschlichen Scharfsinnes und erhabener Hingebung an die Welt der Ideen? (Schluß folgt.) Aus Karl Woermanns Kunst- und Naturskizzen.*) 2. Sevilla. Sevilla, den 23. März 1879. „Nach Sevilla, nach Sevilla" heißt es in einem alten Liede. „Nach Sevilla, nach Sevilla!" rief jetzt auch alles in uns. Wir sehnen uns darnach, diese vielgepriesene Stadt kennen zu lernen, Spaniens atlantische Hafenstadt am Guadalquivir, Spaniens erste Kunststadt, die Velazquez und Murillo geboren, Spaniens schönste Stadt, von der die Dichter singen und selbst nüchterne Reisende schwärmen. Noch vor einigen Tagen sagte uns ein deutscher Offizier, der zu seinem Vergnügen reiste: „Die einzige spanische Stadt, nach der ich Sehnsucht haben werde, ist Sevilla." Die Spanier, mit denen wir uns gelegentlich über die Freuden und Leiden der spanischen Städte unterhalten, sagen stets: „Warten Sie nur, bis Sie Sevilla D. Red, ") Vgl, die Anmerkung im vorigen Hefte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/270>, abgerufen am 27.12.2024.