Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Zum Gedächtniß Victor Emanuels.
(f den 9. Jammr 1373^)
v Gelo Speyer. on

Als beim Sturze Napoleons I. die Völker Westeuropas sich aus der eiser¬
nen Umklammerung Frankreichs losrissen, trat zuerst jene Idee als bewußtes
Streben in die Erscheinung, die seitdem trotz aller Hindernisse, welche der Egois¬
mus einzelner herrschenden Familien wie die idem- und völkerfeindliche Reaction
ihr entgegenstellten, mehr, und mehr zur Signatur der politischen Geschichte
unseres Welttheils geworden ist: die Idee des Nationalstaates, d. h. der Eini¬
gung der durch gemeinsame Abstammung, durch gemeinsame historische Erinne¬
rungen, vor allem durch gemeinsame Sprache und Literatur verbundenen Völker¬
stämme zu einem politischen Ganzen. Die beiden großartigsten Thatsachen der
neuesten Geschichte stehen als redende Zeugnisse für die Herrschaft dieser Idee
da: die Schöpfung des neuen deutschen Reiches und die Schöpfung des einheit¬
lichen Königreichs Italien.

Ueberblicken wir die Geschichte der inneren und äußeren Entfaltung der
nationalen Idee in Italien, so tritt eine lange Reihe der mannigfachsten Ge¬
stalten vor unser Auge. Wir wollen nicht reden von jenen vereinzelten Patrioten
und ehrgeizigen Machthabern, die in früheren Jahrhunderten mit der Idee eines
einheitlichen Königreichs Italien geliebäugelt haben: nicht von Petrarcas Aufruf
an Cota ti Rienzi oder Macchiavellis Appell an Lorenzo de' Medici, nicht von
den stolzen Träumen Cesare Borgias oder Castruccio Castracanis, noch weniger
von dem Manifest Murats, des abenteuernden Exkönigs von Neapel. Seit der
Wiener Congreß, dessen trauriges Werk unsere Augen haben in Staub zer¬
fallen sehen, Italien wie ganz Europa nicht nach den Bedürfnissen und den
berechtigten Wünschen der Völker, sondern nach den Interessen der Fürsten zu
reconstruiren unternahm, erblicke:: wir zunächst die lange Folge jener patriotischen
Schwärmer, die mit der herrschende" despotischen und antinationalen Reaction


Grenzboten I. 1380. 7
Zum Gedächtniß Victor Emanuels.
(f den 9. Jammr 1373^)
v Gelo Speyer. on

Als beim Sturze Napoleons I. die Völker Westeuropas sich aus der eiser¬
nen Umklammerung Frankreichs losrissen, trat zuerst jene Idee als bewußtes
Streben in die Erscheinung, die seitdem trotz aller Hindernisse, welche der Egois¬
mus einzelner herrschenden Familien wie die idem- und völkerfeindliche Reaction
ihr entgegenstellten, mehr, und mehr zur Signatur der politischen Geschichte
unseres Welttheils geworden ist: die Idee des Nationalstaates, d. h. der Eini¬
gung der durch gemeinsame Abstammung, durch gemeinsame historische Erinne¬
rungen, vor allem durch gemeinsame Sprache und Literatur verbundenen Völker¬
stämme zu einem politischen Ganzen. Die beiden großartigsten Thatsachen der
neuesten Geschichte stehen als redende Zeugnisse für die Herrschaft dieser Idee
da: die Schöpfung des neuen deutschen Reiches und die Schöpfung des einheit¬
lichen Königreichs Italien.

Ueberblicken wir die Geschichte der inneren und äußeren Entfaltung der
nationalen Idee in Italien, so tritt eine lange Reihe der mannigfachsten Ge¬
stalten vor unser Auge. Wir wollen nicht reden von jenen vereinzelten Patrioten
und ehrgeizigen Machthabern, die in früheren Jahrhunderten mit der Idee eines
einheitlichen Königreichs Italien geliebäugelt haben: nicht von Petrarcas Aufruf
an Cota ti Rienzi oder Macchiavellis Appell an Lorenzo de' Medici, nicht von
den stolzen Träumen Cesare Borgias oder Castruccio Castracanis, noch weniger
von dem Manifest Murats, des abenteuernden Exkönigs von Neapel. Seit der
Wiener Congreß, dessen trauriges Werk unsere Augen haben in Staub zer¬
fallen sehen, Italien wie ganz Europa nicht nach den Bedürfnissen und den
berechtigten Wünschen der Völker, sondern nach den Interessen der Fürsten zu
reconstruiren unternahm, erblicke:: wir zunächst die lange Folge jener patriotischen
Schwärmer, die mit der herrschende« despotischen und antinationalen Reaction


Grenzboten I. 1380. 7
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0057" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/145986"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Zum Gedächtniß Victor Emanuels.<lb/>
(f den 9. Jammr 1373^)<lb/>
v<note type="byline"> Gelo Speyer.</note> on </head><lb/>
          <p xml:id="ID_131"> Als beim Sturze Napoleons I. die Völker Westeuropas sich aus der eiser¬<lb/>
nen Umklammerung Frankreichs losrissen, trat zuerst jene Idee als bewußtes<lb/>
Streben in die Erscheinung, die seitdem trotz aller Hindernisse, welche der Egois¬<lb/>
mus einzelner herrschenden Familien wie die idem- und völkerfeindliche Reaction<lb/>
ihr entgegenstellten, mehr, und mehr zur Signatur der politischen Geschichte<lb/>
unseres Welttheils geworden ist: die Idee des Nationalstaates, d. h. der Eini¬<lb/>
gung der durch gemeinsame Abstammung, durch gemeinsame historische Erinne¬<lb/>
rungen, vor allem durch gemeinsame Sprache und Literatur verbundenen Völker¬<lb/>
stämme zu einem politischen Ganzen. Die beiden großartigsten Thatsachen der<lb/>
neuesten Geschichte stehen als redende Zeugnisse für die Herrschaft dieser Idee<lb/>
da: die Schöpfung des neuen deutschen Reiches und die Schöpfung des einheit¬<lb/>
lichen Königreichs Italien.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_132" next="#ID_133"> Ueberblicken wir die Geschichte der inneren und äußeren Entfaltung der<lb/>
nationalen Idee in Italien, so tritt eine lange Reihe der mannigfachsten Ge¬<lb/>
stalten vor unser Auge. Wir wollen nicht reden von jenen vereinzelten Patrioten<lb/>
und ehrgeizigen Machthabern, die in früheren Jahrhunderten mit der Idee eines<lb/>
einheitlichen Königreichs Italien geliebäugelt haben: nicht von Petrarcas Aufruf<lb/>
an Cota ti Rienzi oder Macchiavellis Appell an Lorenzo de' Medici, nicht von<lb/>
den stolzen Träumen Cesare Borgias oder Castruccio Castracanis, noch weniger<lb/>
von dem Manifest Murats, des abenteuernden Exkönigs von Neapel. Seit der<lb/>
Wiener Congreß, dessen trauriges Werk unsere Augen haben in Staub zer¬<lb/>
fallen sehen, Italien wie ganz Europa nicht nach den Bedürfnissen und den<lb/>
berechtigten Wünschen der Völker, sondern nach den Interessen der Fürsten zu<lb/>
reconstruiren unternahm, erblicke:: wir zunächst die lange Folge jener patriotischen<lb/>
Schwärmer, die mit der herrschende« despotischen und antinationalen Reaction</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1380. 7</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0057] Zum Gedächtniß Victor Emanuels. (f den 9. Jammr 1373^) v Gelo Speyer. on Als beim Sturze Napoleons I. die Völker Westeuropas sich aus der eiser¬ nen Umklammerung Frankreichs losrissen, trat zuerst jene Idee als bewußtes Streben in die Erscheinung, die seitdem trotz aller Hindernisse, welche der Egois¬ mus einzelner herrschenden Familien wie die idem- und völkerfeindliche Reaction ihr entgegenstellten, mehr, und mehr zur Signatur der politischen Geschichte unseres Welttheils geworden ist: die Idee des Nationalstaates, d. h. der Eini¬ gung der durch gemeinsame Abstammung, durch gemeinsame historische Erinne¬ rungen, vor allem durch gemeinsame Sprache und Literatur verbundenen Völker¬ stämme zu einem politischen Ganzen. Die beiden großartigsten Thatsachen der neuesten Geschichte stehen als redende Zeugnisse für die Herrschaft dieser Idee da: die Schöpfung des neuen deutschen Reiches und die Schöpfung des einheit¬ lichen Königreichs Italien. Ueberblicken wir die Geschichte der inneren und äußeren Entfaltung der nationalen Idee in Italien, so tritt eine lange Reihe der mannigfachsten Ge¬ stalten vor unser Auge. Wir wollen nicht reden von jenen vereinzelten Patrioten und ehrgeizigen Machthabern, die in früheren Jahrhunderten mit der Idee eines einheitlichen Königreichs Italien geliebäugelt haben: nicht von Petrarcas Aufruf an Cota ti Rienzi oder Macchiavellis Appell an Lorenzo de' Medici, nicht von den stolzen Träumen Cesare Borgias oder Castruccio Castracanis, noch weniger von dem Manifest Murats, des abenteuernden Exkönigs von Neapel. Seit der Wiener Congreß, dessen trauriges Werk unsere Augen haben in Staub zer¬ fallen sehen, Italien wie ganz Europa nicht nach den Bedürfnissen und den berechtigten Wünschen der Völker, sondern nach den Interessen der Fürsten zu reconstruiren unternahm, erblicke:: wir zunächst die lange Folge jener patriotischen Schwärmer, die mit der herrschende« despotischen und antinationalen Reaction Grenzboten I. 1380. 7

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/57
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/57>, abgerufen am 22.07.2024.