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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Me Information und die Mystik.

Das Verständniß der geschichtlichen Entwickelung des Christenthums ist
an die richtige Auffassung der Beziehungen geknüpft, in welchen die allgemeinen
formalen Faktoren desselben, der religiöse, der moralische und der soziale Faktor,
im Verlauf der Zeiten, sowie in den einzelnen in sich abgeschlossenen Perioden
gestanden haben und stehen. Denn wie zweifellos es auch ist, daß ihrer wesent¬
lichen Anlage nach diese drei Faktoren zusammengehören und keiner ohne den
andern sich ausbilden und erhalten kann, so ist es doch eine ebenso unbestreit¬
bare Thatsache, daß dieselben eine relative Selbständigkeit gegen einander be¬
haupten, in dem Grade, daß sie sogar in eine Spannung des gegenseitigen
Verhältnisses treten können. Bald sehen wir das religiöse Element sich so ein¬
seitig entfalten, daß die Pflege des Moralischen dahinter zurückbleibt, bald
wiederum dieses mit einer solchen Ausschließlichkeit sich zur Geltung bringen,
daß jenes dabei verkümmert; bald sehen wir das religiös-sittliche Leben des
Individuums so voll und ganz in die Bewegungen und Ordnungen der Ge¬
meinschaft aufgehen, daß es seine Selbständigkeit einbüßt und auf die Ausge¬
staltung des eignen Werthes Verzicht leisten muß; bald endlich sehen wir das¬
selbe so durchdrungen und erfüllt vom Bewußtsein seiner Bedeutung, daß es
geneigt ist, der Gemeinschaft den Rücken zu kehren und seinem eignen Wege
zu folgen.

Wie wenig nun auch diese allgemeinen formalen Gesichtspunkte ausreichen,
um den großen geschichtlichen Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestan¬
tismus zu begreifen, wie sehr es dazu auch der Ergänzung durch bestimmte
materiale Kategorieen bedarf, so fällt doch auch schon von jenen aus ein eigen¬
thümliches Licht auf denselben.

Daß der soziale Faktor, die Kirche, eine hervorragendere Stellung im
Katholizismus einnimmt, daß dagegen im Protestantismus der Subjektivität
ein größerer Spielraum eingeräumt ist, darf als allgemein zugestanden gelten.
Diese Thatsache ist aber bedeutungsvoll für die Gestalt, welche hier und dort
das religiös-sittliche Leben empfängt, für die Färbung, die es hier und dort
annimmt. Denn es liegt anf der Hand, daß die Steigerung der Ansprüche
der Kirche, die Hintansetzung des individuellen gegenüber dem sozialen Faktor,
eine mehr oder weniger gesetzliche Prägung des religiös-sittlichen Elements zur
Folge haben muß. Kann doch eine Gemeinschaft als solche nur in feststehenden,
sichtbaren, äußeren Vollziehungen ihr inneres Sein auswirken. Und wie sehr
sie es anch wünschen mag, daß ihre Angehörigen diese Handlungen geistig be-


Me Information und die Mystik.

Das Verständniß der geschichtlichen Entwickelung des Christenthums ist
an die richtige Auffassung der Beziehungen geknüpft, in welchen die allgemeinen
formalen Faktoren desselben, der religiöse, der moralische und der soziale Faktor,
im Verlauf der Zeiten, sowie in den einzelnen in sich abgeschlossenen Perioden
gestanden haben und stehen. Denn wie zweifellos es auch ist, daß ihrer wesent¬
lichen Anlage nach diese drei Faktoren zusammengehören und keiner ohne den
andern sich ausbilden und erhalten kann, so ist es doch eine ebenso unbestreit¬
bare Thatsache, daß dieselben eine relative Selbständigkeit gegen einander be¬
haupten, in dem Grade, daß sie sogar in eine Spannung des gegenseitigen
Verhältnisses treten können. Bald sehen wir das religiöse Element sich so ein¬
seitig entfalten, daß die Pflege des Moralischen dahinter zurückbleibt, bald
wiederum dieses mit einer solchen Ausschließlichkeit sich zur Geltung bringen,
daß jenes dabei verkümmert; bald sehen wir das religiös-sittliche Leben des
Individuums so voll und ganz in die Bewegungen und Ordnungen der Ge¬
meinschaft aufgehen, daß es seine Selbständigkeit einbüßt und auf die Ausge¬
staltung des eignen Werthes Verzicht leisten muß; bald endlich sehen wir das¬
selbe so durchdrungen und erfüllt vom Bewußtsein seiner Bedeutung, daß es
geneigt ist, der Gemeinschaft den Rücken zu kehren und seinem eignen Wege
zu folgen.

Wie wenig nun auch diese allgemeinen formalen Gesichtspunkte ausreichen,
um den großen geschichtlichen Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestan¬
tismus zu begreifen, wie sehr es dazu auch der Ergänzung durch bestimmte
materiale Kategorieen bedarf, so fällt doch auch schon von jenen aus ein eigen¬
thümliches Licht auf denselben.

Daß der soziale Faktor, die Kirche, eine hervorragendere Stellung im
Katholizismus einnimmt, daß dagegen im Protestantismus der Subjektivität
ein größerer Spielraum eingeräumt ist, darf als allgemein zugestanden gelten.
Diese Thatsache ist aber bedeutungsvoll für die Gestalt, welche hier und dort
das religiös-sittliche Leben empfängt, für die Färbung, die es hier und dort
annimmt. Denn es liegt anf der Hand, daß die Steigerung der Ansprüche
der Kirche, die Hintansetzung des individuellen gegenüber dem sozialen Faktor,
eine mehr oder weniger gesetzliche Prägung des religiös-sittlichen Elements zur
Folge haben muß. Kann doch eine Gemeinschaft als solche nur in feststehenden,
sichtbaren, äußeren Vollziehungen ihr inneres Sein auswirken. Und wie sehr
sie es anch wünschen mag, daß ihre Angehörigen diese Handlungen geistig be-


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[0097] Me Information und die Mystik. Das Verständniß der geschichtlichen Entwickelung des Christenthums ist an die richtige Auffassung der Beziehungen geknüpft, in welchen die allgemeinen formalen Faktoren desselben, der religiöse, der moralische und der soziale Faktor, im Verlauf der Zeiten, sowie in den einzelnen in sich abgeschlossenen Perioden gestanden haben und stehen. Denn wie zweifellos es auch ist, daß ihrer wesent¬ lichen Anlage nach diese drei Faktoren zusammengehören und keiner ohne den andern sich ausbilden und erhalten kann, so ist es doch eine ebenso unbestreit¬ bare Thatsache, daß dieselben eine relative Selbständigkeit gegen einander be¬ haupten, in dem Grade, daß sie sogar in eine Spannung des gegenseitigen Verhältnisses treten können. Bald sehen wir das religiöse Element sich so ein¬ seitig entfalten, daß die Pflege des Moralischen dahinter zurückbleibt, bald wiederum dieses mit einer solchen Ausschließlichkeit sich zur Geltung bringen, daß jenes dabei verkümmert; bald sehen wir das religiös-sittliche Leben des Individuums so voll und ganz in die Bewegungen und Ordnungen der Ge¬ meinschaft aufgehen, daß es seine Selbständigkeit einbüßt und auf die Ausge¬ staltung des eignen Werthes Verzicht leisten muß; bald endlich sehen wir das¬ selbe so durchdrungen und erfüllt vom Bewußtsein seiner Bedeutung, daß es geneigt ist, der Gemeinschaft den Rücken zu kehren und seinem eignen Wege zu folgen. Wie wenig nun auch diese allgemeinen formalen Gesichtspunkte ausreichen, um den großen geschichtlichen Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestan¬ tismus zu begreifen, wie sehr es dazu auch der Ergänzung durch bestimmte materiale Kategorieen bedarf, so fällt doch auch schon von jenen aus ein eigen¬ thümliches Licht auf denselben. Daß der soziale Faktor, die Kirche, eine hervorragendere Stellung im Katholizismus einnimmt, daß dagegen im Protestantismus der Subjektivität ein größerer Spielraum eingeräumt ist, darf als allgemein zugestanden gelten. Diese Thatsache ist aber bedeutungsvoll für die Gestalt, welche hier und dort das religiös-sittliche Leben empfängt, für die Färbung, die es hier und dort annimmt. Denn es liegt anf der Hand, daß die Steigerung der Ansprüche der Kirche, die Hintansetzung des individuellen gegenüber dem sozialen Faktor, eine mehr oder weniger gesetzliche Prägung des religiös-sittlichen Elements zur Folge haben muß. Kann doch eine Gemeinschaft als solche nur in feststehenden, sichtbaren, äußeren Vollziehungen ihr inneres Sein auswirken. Und wie sehr sie es anch wünschen mag, daß ihre Angehörigen diese Handlungen geistig be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/97>, abgerufen am 03.07.2024.