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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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künstlerischen Betrachtung einen Begriff aufzugeben, welcher uur noch die Rolle
eines leeren Schubfachs spielt. Ebenso bedenklich ist es, wenn man an den
Wechsel der philosophischen Begriffsdefinitionen denkt, in der modernen Kunst
eine idealistische, realistische und naturalistische Strömung unterscheiden zu wollen,
etwa wie man im Reichstage von Konservativen, Nationalliberalen und Fort¬
schrittsleuten spricht. Der sicherste Leitstern innerhalb des Labyrinths der mo¬
dernen Kunst ist nicht der Ideengehalt, der sich mit dem Zeitbewußtsein wandelt,
sondern die Form. Indem wir alles, was sich unter diesen völlig äußerlichen
Begriff subsumiren läßt, Zeichnung, Kolorit, Modellirung, als charakteristisches
Merkmal für die Erscheinungen der Künstlerwelt auffassen, werden wir um so
seltener straucheln, als der Gesichtssinn, der durch das Auge fungirt, immer noch
der relativ verläßlichste unter allen fünfen ist. In zweiter Linie wird dann
nach der technischen die Arbeit des Geistes in Betracht kommen, die sich zunächst
in der "Auffassung" kundgibt. Wenn wir dann von einer romantischen und einer
realistischen Auffassung, von einer idealistischen und einer naturalistischen Formen¬
behandlung sprechen, werden wir zu weit wenigeren Mißverständnissen Veran¬
lassung geben als mit Beibehaltung der veralteten, unbequemen Schulbegriffe,
die von der Feststellung des geistigen Gehaltes ausgehen,


Adolf Rosenberg.


Lieder eines fahrenden Hesell'en.

Mit Wehmuth kann es einen erfüllen, wenn man bedenkt, welch eine
Menge lyrischer Singvögel Jahr um Jahr im deutschen Dichterwalde ihre
Stimmen unbeachtet erschallen lassen. Die meisten von ihnen möchten mit Heinrich
Schreiber klagen:


Was nützt in dem wilden Walde
Kleiner Vögelein Gesang
Und ihr Tönen mannichfalde,
Wer sagt ihrem Singen Dank?

Und die wenigen, die sich wirklich vorübergehend Beachtung erringen, wie bald
sind sie vergessen! Schlagt unsre Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts,
unsre lyrischen Anthologien auf -- da stehen sie hinter Glas und Rahmen sauber
in Reih und Glied, die bunten, ausgestopften Vogelleichen, aber wer fragt noch
nach all ihrem Singsang? Versälle, verweht nur ihr Name ist noch übrig,
und oft kaum der Name mehr. Freilich, die strenge tadrüa votivs., die Schiller
den Dichterlingen seiner Zeit widmete:


künstlerischen Betrachtung einen Begriff aufzugeben, welcher uur noch die Rolle
eines leeren Schubfachs spielt. Ebenso bedenklich ist es, wenn man an den
Wechsel der philosophischen Begriffsdefinitionen denkt, in der modernen Kunst
eine idealistische, realistische und naturalistische Strömung unterscheiden zu wollen,
etwa wie man im Reichstage von Konservativen, Nationalliberalen und Fort¬
schrittsleuten spricht. Der sicherste Leitstern innerhalb des Labyrinths der mo¬
dernen Kunst ist nicht der Ideengehalt, der sich mit dem Zeitbewußtsein wandelt,
sondern die Form. Indem wir alles, was sich unter diesen völlig äußerlichen
Begriff subsumiren läßt, Zeichnung, Kolorit, Modellirung, als charakteristisches
Merkmal für die Erscheinungen der Künstlerwelt auffassen, werden wir um so
seltener straucheln, als der Gesichtssinn, der durch das Auge fungirt, immer noch
der relativ verläßlichste unter allen fünfen ist. In zweiter Linie wird dann
nach der technischen die Arbeit des Geistes in Betracht kommen, die sich zunächst
in der „Auffassung" kundgibt. Wenn wir dann von einer romantischen und einer
realistischen Auffassung, von einer idealistischen und einer naturalistischen Formen¬
behandlung sprechen, werden wir zu weit wenigeren Mißverständnissen Veran¬
lassung geben als mit Beibehaltung der veralteten, unbequemen Schulbegriffe,
die von der Feststellung des geistigen Gehaltes ausgehen,


Adolf Rosenberg.


Lieder eines fahrenden Hesell'en.

Mit Wehmuth kann es einen erfüllen, wenn man bedenkt, welch eine
Menge lyrischer Singvögel Jahr um Jahr im deutschen Dichterwalde ihre
Stimmen unbeachtet erschallen lassen. Die meisten von ihnen möchten mit Heinrich
Schreiber klagen:


Was nützt in dem wilden Walde
Kleiner Vögelein Gesang
Und ihr Tönen mannichfalde,
Wer sagt ihrem Singen Dank?

Und die wenigen, die sich wirklich vorübergehend Beachtung erringen, wie bald
sind sie vergessen! Schlagt unsre Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts,
unsre lyrischen Anthologien auf — da stehen sie hinter Glas und Rahmen sauber
in Reih und Glied, die bunten, ausgestopften Vogelleichen, aber wer fragt noch
nach all ihrem Singsang? Versälle, verweht nur ihr Name ist noch übrig,
und oft kaum der Name mehr. Freilich, die strenge tadrüa votivs., die Schiller
den Dichterlingen seiner Zeit widmete:


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[0426] künstlerischen Betrachtung einen Begriff aufzugeben, welcher uur noch die Rolle eines leeren Schubfachs spielt. Ebenso bedenklich ist es, wenn man an den Wechsel der philosophischen Begriffsdefinitionen denkt, in der modernen Kunst eine idealistische, realistische und naturalistische Strömung unterscheiden zu wollen, etwa wie man im Reichstage von Konservativen, Nationalliberalen und Fort¬ schrittsleuten spricht. Der sicherste Leitstern innerhalb des Labyrinths der mo¬ dernen Kunst ist nicht der Ideengehalt, der sich mit dem Zeitbewußtsein wandelt, sondern die Form. Indem wir alles, was sich unter diesen völlig äußerlichen Begriff subsumiren läßt, Zeichnung, Kolorit, Modellirung, als charakteristisches Merkmal für die Erscheinungen der Künstlerwelt auffassen, werden wir um so seltener straucheln, als der Gesichtssinn, der durch das Auge fungirt, immer noch der relativ verläßlichste unter allen fünfen ist. In zweiter Linie wird dann nach der technischen die Arbeit des Geistes in Betracht kommen, die sich zunächst in der „Auffassung" kundgibt. Wenn wir dann von einer romantischen und einer realistischen Auffassung, von einer idealistischen und einer naturalistischen Formen¬ behandlung sprechen, werden wir zu weit wenigeren Mißverständnissen Veran¬ lassung geben als mit Beibehaltung der veralteten, unbequemen Schulbegriffe, die von der Feststellung des geistigen Gehaltes ausgehen, Adolf Rosenberg. Lieder eines fahrenden Hesell'en. Mit Wehmuth kann es einen erfüllen, wenn man bedenkt, welch eine Menge lyrischer Singvögel Jahr um Jahr im deutschen Dichterwalde ihre Stimmen unbeachtet erschallen lassen. Die meisten von ihnen möchten mit Heinrich Schreiber klagen: Was nützt in dem wilden Walde Kleiner Vögelein Gesang Und ihr Tönen mannichfalde, Wer sagt ihrem Singen Dank? Und die wenigen, die sich wirklich vorübergehend Beachtung erringen, wie bald sind sie vergessen! Schlagt unsre Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts, unsre lyrischen Anthologien auf — da stehen sie hinter Glas und Rahmen sauber in Reih und Glied, die bunten, ausgestopften Vogelleichen, aber wer fragt noch nach all ihrem Singsang? Versälle, verweht nur ihr Name ist noch übrig, und oft kaum der Name mehr. Freilich, die strenge tadrüa votivs., die Schiller den Dichterlingen seiner Zeit widmete:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/426>, abgerufen am 03.07.2024.