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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Jer Kechtsstaat.

Immer und immer wieder hört man in unseren Parlamenten den "Rechts¬
staat" rühmen und als das Ziel aller inneren politischen Entwickelung bezeich¬
nen, und doch ist dieses Ideal gewisser Parteien so, wie es in der Regel ge¬
meint wird, eine Einseitigkeit und weder wünschenswert!" noch erreichbar. Die
Rechtsstaatstheorie ist das Ergebniß einer rein rationellen Auffassung des ge¬
sellschaftlichen Lebens, sie verlangt ausschließliche Berechtigung der individuellen
Freiheit und absolute Gerechtigkeit, die durch materialistische Gleichheit ver¬
wirklicht werden und auch das sittliche und materielle Lebenselement umfassen
soll; dies ist aber eine Utopie, weil der Staatszweck nicht blos im Rechte liegt
oder blos auf dem Rechtswege erreicht werden kann.

Die Theorie vom Rechtsstaates ist in ihrer modernen Form ein Produkt
der Kant'schen Philosophie. Die ersten Versuche zu ihrer Verwirklichung aber
gingen von der französischen Revolution aus, die mit ihren nach dieser Seite
hin gerichteten Bestrebungen dem damaligen Despotismus, dem "Polizeistaate"
gegenüber bis zu einem gewissen Grade wohl berechtigt war. "Es gab," sagt
Tocqueville, "keine freien Institute mehr, also auch keine politischen Klassen,
keine lebensvollen politischen Körperschaften, keine organisirten Parteien mit
ihren Führern; in Ermangelung aller dieser Kräfte fiel die Führung der öffent¬
lichen Meinung, als diese wieder auflebte, den Philosophen zu, und die Folge
war, daß die Revolution nicht so sehr im Hinblick auf einzelne bestimmte
Fülle, als nach abstrakten, sehr allgemeinen Theorieen geleitet wurde." Bücher
hatten dem Volke die Theorieen geliefert, es übernahm seinerseits die Praxis
und machte die einseitigen Ideen der Schriftsteller mit seinem leidenschaftlichen
Begehren nach unbedingter Gleichheit und Freiheit noch einseitiger und un¬
gerechter.



*) Wir folgen im Nachstehenden Tocqueville: "Das alte Staatswesen" (in der Ueber-
hebung von Boscowitz), Bahr: "Der Rechtsstaat" und vor Allem Held: "Der verfas¬
sungsmäßige oder konstitutionelle Staat", einem Werke, das mit seinen durchweg gesunden
Politischen Anschauungen und Urtheilen nicht warm genug empfohlen werden kann,
Grenzboten II. 1379. 11
Jer Kechtsstaat.

Immer und immer wieder hört man in unseren Parlamenten den „Rechts¬
staat" rühmen und als das Ziel aller inneren politischen Entwickelung bezeich¬
nen, und doch ist dieses Ideal gewisser Parteien so, wie es in der Regel ge¬
meint wird, eine Einseitigkeit und weder wünschenswert!» noch erreichbar. Die
Rechtsstaatstheorie ist das Ergebniß einer rein rationellen Auffassung des ge¬
sellschaftlichen Lebens, sie verlangt ausschließliche Berechtigung der individuellen
Freiheit und absolute Gerechtigkeit, die durch materialistische Gleichheit ver¬
wirklicht werden und auch das sittliche und materielle Lebenselement umfassen
soll; dies ist aber eine Utopie, weil der Staatszweck nicht blos im Rechte liegt
oder blos auf dem Rechtswege erreicht werden kann.

Die Theorie vom Rechtsstaates ist in ihrer modernen Form ein Produkt
der Kant'schen Philosophie. Die ersten Versuche zu ihrer Verwirklichung aber
gingen von der französischen Revolution aus, die mit ihren nach dieser Seite
hin gerichteten Bestrebungen dem damaligen Despotismus, dem „Polizeistaate"
gegenüber bis zu einem gewissen Grade wohl berechtigt war. „Es gab," sagt
Tocqueville, „keine freien Institute mehr, also auch keine politischen Klassen,
keine lebensvollen politischen Körperschaften, keine organisirten Parteien mit
ihren Führern; in Ermangelung aller dieser Kräfte fiel die Führung der öffent¬
lichen Meinung, als diese wieder auflebte, den Philosophen zu, und die Folge
war, daß die Revolution nicht so sehr im Hinblick auf einzelne bestimmte
Fülle, als nach abstrakten, sehr allgemeinen Theorieen geleitet wurde." Bücher
hatten dem Volke die Theorieen geliefert, es übernahm seinerseits die Praxis
und machte die einseitigen Ideen der Schriftsteller mit seinem leidenschaftlichen
Begehren nach unbedingter Gleichheit und Freiheit noch einseitiger und un¬
gerechter.



*) Wir folgen im Nachstehenden Tocqueville: „Das alte Staatswesen" (in der Ueber-
hebung von Boscowitz), Bahr: „Der Rechtsstaat" und vor Allem Held: „Der verfas¬
sungsmäßige oder konstitutionelle Staat", einem Werke, das mit seinen durchweg gesunden
Politischen Anschauungen und Urtheilen nicht warm genug empfohlen werden kann,
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[0085] Jer Kechtsstaat. Immer und immer wieder hört man in unseren Parlamenten den „Rechts¬ staat" rühmen und als das Ziel aller inneren politischen Entwickelung bezeich¬ nen, und doch ist dieses Ideal gewisser Parteien so, wie es in der Regel ge¬ meint wird, eine Einseitigkeit und weder wünschenswert!» noch erreichbar. Die Rechtsstaatstheorie ist das Ergebniß einer rein rationellen Auffassung des ge¬ sellschaftlichen Lebens, sie verlangt ausschließliche Berechtigung der individuellen Freiheit und absolute Gerechtigkeit, die durch materialistische Gleichheit ver¬ wirklicht werden und auch das sittliche und materielle Lebenselement umfassen soll; dies ist aber eine Utopie, weil der Staatszweck nicht blos im Rechte liegt oder blos auf dem Rechtswege erreicht werden kann. Die Theorie vom Rechtsstaates ist in ihrer modernen Form ein Produkt der Kant'schen Philosophie. Die ersten Versuche zu ihrer Verwirklichung aber gingen von der französischen Revolution aus, die mit ihren nach dieser Seite hin gerichteten Bestrebungen dem damaligen Despotismus, dem „Polizeistaate" gegenüber bis zu einem gewissen Grade wohl berechtigt war. „Es gab," sagt Tocqueville, „keine freien Institute mehr, also auch keine politischen Klassen, keine lebensvollen politischen Körperschaften, keine organisirten Parteien mit ihren Führern; in Ermangelung aller dieser Kräfte fiel die Führung der öffent¬ lichen Meinung, als diese wieder auflebte, den Philosophen zu, und die Folge war, daß die Revolution nicht so sehr im Hinblick auf einzelne bestimmte Fülle, als nach abstrakten, sehr allgemeinen Theorieen geleitet wurde." Bücher hatten dem Volke die Theorieen geliefert, es übernahm seinerseits die Praxis und machte die einseitigen Ideen der Schriftsteller mit seinem leidenschaftlichen Begehren nach unbedingter Gleichheit und Freiheit noch einseitiger und un¬ gerechter. *) Wir folgen im Nachstehenden Tocqueville: „Das alte Staatswesen" (in der Ueber- hebung von Boscowitz), Bahr: „Der Rechtsstaat" und vor Allem Held: „Der verfas¬ sungsmäßige oder konstitutionelle Staat", einem Werke, das mit seinen durchweg gesunden Politischen Anschauungen und Urtheilen nicht warm genug empfohlen werden kann, Grenzboten II. 1379. 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/85>, abgerufen am 27.12.2024.