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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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wenn aber unterdeß der Garten verwildert, wird er bald auch die geschmückte
Rose überwuchern und ihr Luft und Licht zum Leben entziehen. Es tritt
hier eben in Betreff des Wohles des Einzelnen, wie des der Gesellschaft die
große Bedeutung der Umgebung für das Erblichkeitsgesetz des Fortschritts in
ihr Recht. Die Umgebung bildet und bestimmt den Einzelnen vom ersten bis
zum letzten Athemzuge und legt Keime des Heils oder des Unheils in den
Schooß der Gesellschaft. Die Folgen befestigen sich als Zustände der Gesell¬
schaft; die Zustände werden konkret in numerischen Verhältnissen sittlicher Er¬
scheinung und schrecken uns dann mit dem Bilde eines Fatnms, eines unab¬
wendbaren Schicksals. Solche Zustände zu ändern, das sittliche Niveau der
Gesellschaft zu erhöhen - und das ist das Beruhigende --, wird um so
sicherer gelingen, je mehr Einzelne innerhalb der Gesellschaft in gemeinnütziger
Thätigkeit dahin streben, die Gewohnheiten, die Kenntnisse, die Bildung und
das sittliche Bewußtsein aller Volksklassen, mit denen sie in Berührung kommen,
zu bessern und zu vervollkommnen. Die Zukunft wird dann mit den Zahlen
der Kriminalstatistik bezeugen, was der freie menschliche Wille geschaffen hat.


E. Wiß.


Die Aerzte zu Urgroßvaters Zeit.

Wenige Wissenschaften haben im Laufe der letzten hundert Jahre eine so
tiefgehende Umgestaltung erfahren, wie die Medizin, und zugleich hat sich die
Ausübung der ärztlichen Kunst außerordentlich verbessert. Namentlich bezeich¬
nen die letzten drei oder vier Dezennien einen Fortschritt, wie nie zuvor. Die
Heilkunde unserer Tage sieht von aller philosophischen Spekulation ab, läßt
sich möglichst wenig auf Hypothesen ein, vermeidet vorschnelles Systematisiren
und hält sich in allen Fragen, vor die sie gestellt wird, einzig an das, was
die gesunden fünf Sinne und eine nüchterne Ueberlegung zeigen und anrathen.
In der alten Zeit war ungefähr das Gegentheil die Regel. Aber die Ge¬
sammtheit der philosophischen Richtungen, die von den Tagen des Hippokrates
an bis auf die Glanzperiode der Schelling'schen Naturphilosophie sich mit der
Kunde vom gesunden und kranken Menschen zu schaffen machten, ist nicht
halb so fruchtbar an bleibenden Ergebnissen gewesen, wie die wenigen klaren
Geister, welche sich in unserer realistischen Zeit bei ihren Versuchen, die Medizin
zu vervollkommnen, lediglich auf eine unbefangene Beobachtung der Natur


wenn aber unterdeß der Garten verwildert, wird er bald auch die geschmückte
Rose überwuchern und ihr Luft und Licht zum Leben entziehen. Es tritt
hier eben in Betreff des Wohles des Einzelnen, wie des der Gesellschaft die
große Bedeutung der Umgebung für das Erblichkeitsgesetz des Fortschritts in
ihr Recht. Die Umgebung bildet und bestimmt den Einzelnen vom ersten bis
zum letzten Athemzuge und legt Keime des Heils oder des Unheils in den
Schooß der Gesellschaft. Die Folgen befestigen sich als Zustände der Gesell¬
schaft; die Zustände werden konkret in numerischen Verhältnissen sittlicher Er¬
scheinung und schrecken uns dann mit dem Bilde eines Fatnms, eines unab¬
wendbaren Schicksals. Solche Zustände zu ändern, das sittliche Niveau der
Gesellschaft zu erhöhen - und das ist das Beruhigende —, wird um so
sicherer gelingen, je mehr Einzelne innerhalb der Gesellschaft in gemeinnütziger
Thätigkeit dahin streben, die Gewohnheiten, die Kenntnisse, die Bildung und
das sittliche Bewußtsein aller Volksklassen, mit denen sie in Berührung kommen,
zu bessern und zu vervollkommnen. Die Zukunft wird dann mit den Zahlen
der Kriminalstatistik bezeugen, was der freie menschliche Wille geschaffen hat.


E. Wiß.


Die Aerzte zu Urgroßvaters Zeit.

Wenige Wissenschaften haben im Laufe der letzten hundert Jahre eine so
tiefgehende Umgestaltung erfahren, wie die Medizin, und zugleich hat sich die
Ausübung der ärztlichen Kunst außerordentlich verbessert. Namentlich bezeich¬
nen die letzten drei oder vier Dezennien einen Fortschritt, wie nie zuvor. Die
Heilkunde unserer Tage sieht von aller philosophischen Spekulation ab, läßt
sich möglichst wenig auf Hypothesen ein, vermeidet vorschnelles Systematisiren
und hält sich in allen Fragen, vor die sie gestellt wird, einzig an das, was
die gesunden fünf Sinne und eine nüchterne Ueberlegung zeigen und anrathen.
In der alten Zeit war ungefähr das Gegentheil die Regel. Aber die Ge¬
sammtheit der philosophischen Richtungen, die von den Tagen des Hippokrates
an bis auf die Glanzperiode der Schelling'schen Naturphilosophie sich mit der
Kunde vom gesunden und kranken Menschen zu schaffen machten, ist nicht
halb so fruchtbar an bleibenden Ergebnissen gewesen, wie die wenigen klaren
Geister, welche sich in unserer realistischen Zeit bei ihren Versuchen, die Medizin
zu vervollkommnen, lediglich auf eine unbefangene Beobachtung der Natur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/269>, abgerufen am 27.12.2024.