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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Man sucht auch diese Erscheinung zu erklären. Aber die Entstehung
mächtiger Individualitäten in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten
Lande wird damit nicht erklärt. Wenn uns auch die Wissenschaft Vieles, was
uns vordem als sreie Bewegung, als freies Wachsthum erschienen ist, als
Resultat vielverzweigter und sich ursachlich bedingender Kräfte erkennen läßt:
die Entstehung der Einheit des menschlichen Bewußtseins aus den Zusammen¬
setzungen erkannter physischer und seelischer Kräfte, den dunklen Mutterschooß,
aus dem der freie Wille und die Entschließungen des Menschen, aus dem die
einzelnen, Neues schaffenden geistigen und künstlerischen Kräfte emporsprießen,
kann keine Wissenschaft uns zeigen. Hier stehen wir noch immer vor dem
dunklen Räthsel der Sphinx: "Was ist der Mensch?" Eines ist klar: daß
auch für die eigenartigste und gewaltigste individuelle Kraft die in ihrem
Schooße ihn bergende und ihn erzeugende Gesellschaft zum theilweise bestim¬
menden Schicksal, zum stärksten Bildungsmoment des Charakters, wenn auch
allerdings nicht zum einzigen wird. Daraus folgt aber, daß mit den in der
Richtung des Schönen, Edlen und Guten, in der Richtung geistiger Gesundheit
und geistiger Kraft des Wachsthums veränderten Bedingungen der Gesellschaft
auch eine bestimmende Macht über den freien menschlichen Willen des Einzelnen
geschaffen werden kann, daß man es dahin muß bringen können, daß nicht das
numerische Gesetz der Gesellschaft die Zahl der Verbrechen beherrscht, sondern
daß die Gesellschaft dies numerische Gesetz beherrsche, das heißt umändere in
E. Wiß. der von ihr gewollten Richtung.




Zwei deutsche MeraturgeschichLen.

"Ich möchte gern meinem Sohne zu seinem siebzehnten Geburtstage eine
Geschichte der deutscheu Literatur schenken, einen ruhigen, Vorurtheilsfreien
Wegweiser, der, ohne das jugendliche Gemüth zu verwirren oder zu einseitiger
Parteinahme zu verleiten, ihm in objektiver, aber anregender Weise das Ver¬
ständniß für die geistigen Schätze unseres Volkes eröffnet. Können Sie mir
ein solches Buch empfehlen?" Ich gerieth bei dieser, kürzlich an mich gerich¬
teten Frage in peinliche Verlegenheit. Ich kramte unablässig in meinem Ge¬
dächtniß umher, eine Menge von Namen ging über meine Lippen, aber jedem
mußte ich irgend ein "Aber" anhängen, welches mit einer gewissenhaften Em¬
pfehlung nicht vereinbar war. Das große Sammelwerk von Heinrich Kurz,


Man sucht auch diese Erscheinung zu erklären. Aber die Entstehung
mächtiger Individualitäten in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten
Lande wird damit nicht erklärt. Wenn uns auch die Wissenschaft Vieles, was
uns vordem als sreie Bewegung, als freies Wachsthum erschienen ist, als
Resultat vielverzweigter und sich ursachlich bedingender Kräfte erkennen läßt:
die Entstehung der Einheit des menschlichen Bewußtseins aus den Zusammen¬
setzungen erkannter physischer und seelischer Kräfte, den dunklen Mutterschooß,
aus dem der freie Wille und die Entschließungen des Menschen, aus dem die
einzelnen, Neues schaffenden geistigen und künstlerischen Kräfte emporsprießen,
kann keine Wissenschaft uns zeigen. Hier stehen wir noch immer vor dem
dunklen Räthsel der Sphinx: „Was ist der Mensch?" Eines ist klar: daß
auch für die eigenartigste und gewaltigste individuelle Kraft die in ihrem
Schooße ihn bergende und ihn erzeugende Gesellschaft zum theilweise bestim¬
menden Schicksal, zum stärksten Bildungsmoment des Charakters, wenn auch
allerdings nicht zum einzigen wird. Daraus folgt aber, daß mit den in der
Richtung des Schönen, Edlen und Guten, in der Richtung geistiger Gesundheit
und geistiger Kraft des Wachsthums veränderten Bedingungen der Gesellschaft
auch eine bestimmende Macht über den freien menschlichen Willen des Einzelnen
geschaffen werden kann, daß man es dahin muß bringen können, daß nicht das
numerische Gesetz der Gesellschaft die Zahl der Verbrechen beherrscht, sondern
daß die Gesellschaft dies numerische Gesetz beherrsche, das heißt umändere in
E. Wiß. der von ihr gewollten Richtung.




Zwei deutsche MeraturgeschichLen.

„Ich möchte gern meinem Sohne zu seinem siebzehnten Geburtstage eine
Geschichte der deutscheu Literatur schenken, einen ruhigen, Vorurtheilsfreien
Wegweiser, der, ohne das jugendliche Gemüth zu verwirren oder zu einseitiger
Parteinahme zu verleiten, ihm in objektiver, aber anregender Weise das Ver¬
ständniß für die geistigen Schätze unseres Volkes eröffnet. Können Sie mir
ein solches Buch empfehlen?" Ich gerieth bei dieser, kürzlich an mich gerich¬
teten Frage in peinliche Verlegenheit. Ich kramte unablässig in meinem Ge¬
dächtniß umher, eine Menge von Namen ging über meine Lippen, aber jedem
mußte ich irgend ein „Aber" anhängen, welches mit einer gewissenhaften Em¬
pfehlung nicht vereinbar war. Das große Sammelwerk von Heinrich Kurz,


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[0237] Man sucht auch diese Erscheinung zu erklären. Aber die Entstehung mächtiger Individualitäten in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Lande wird damit nicht erklärt. Wenn uns auch die Wissenschaft Vieles, was uns vordem als sreie Bewegung, als freies Wachsthum erschienen ist, als Resultat vielverzweigter und sich ursachlich bedingender Kräfte erkennen läßt: die Entstehung der Einheit des menschlichen Bewußtseins aus den Zusammen¬ setzungen erkannter physischer und seelischer Kräfte, den dunklen Mutterschooß, aus dem der freie Wille und die Entschließungen des Menschen, aus dem die einzelnen, Neues schaffenden geistigen und künstlerischen Kräfte emporsprießen, kann keine Wissenschaft uns zeigen. Hier stehen wir noch immer vor dem dunklen Räthsel der Sphinx: „Was ist der Mensch?" Eines ist klar: daß auch für die eigenartigste und gewaltigste individuelle Kraft die in ihrem Schooße ihn bergende und ihn erzeugende Gesellschaft zum theilweise bestim¬ menden Schicksal, zum stärksten Bildungsmoment des Charakters, wenn auch allerdings nicht zum einzigen wird. Daraus folgt aber, daß mit den in der Richtung des Schönen, Edlen und Guten, in der Richtung geistiger Gesundheit und geistiger Kraft des Wachsthums veränderten Bedingungen der Gesellschaft auch eine bestimmende Macht über den freien menschlichen Willen des Einzelnen geschaffen werden kann, daß man es dahin muß bringen können, daß nicht das numerische Gesetz der Gesellschaft die Zahl der Verbrechen beherrscht, sondern daß die Gesellschaft dies numerische Gesetz beherrsche, das heißt umändere in E. Wiß. der von ihr gewollten Richtung. Zwei deutsche MeraturgeschichLen. „Ich möchte gern meinem Sohne zu seinem siebzehnten Geburtstage eine Geschichte der deutscheu Literatur schenken, einen ruhigen, Vorurtheilsfreien Wegweiser, der, ohne das jugendliche Gemüth zu verwirren oder zu einseitiger Parteinahme zu verleiten, ihm in objektiver, aber anregender Weise das Ver¬ ständniß für die geistigen Schätze unseres Volkes eröffnet. Können Sie mir ein solches Buch empfehlen?" Ich gerieth bei dieser, kürzlich an mich gerich¬ teten Frage in peinliche Verlegenheit. Ich kramte unablässig in meinem Ge¬ dächtniß umher, eine Menge von Namen ging über meine Lippen, aber jedem mußte ich irgend ein „Aber" anhängen, welches mit einer gewissenhaften Em¬ pfehlung nicht vereinbar war. Das große Sammelwerk von Heinrich Kurz,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/237>, abgerufen am 27.12.2024.