Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Ueber einige Mängel an unseren Parlamenten.
ii.

Neben den im ersten Abschnitte dieser Betrachtungen hervorgehobenen
Mängeln unseres parlamentarischen Lebens ist noch ein weiterer zu nennen,
welchen der dort zitirte Zeitungsartikel nur kurz andeutete, der aber unserer
Ansicht nach zu den bedenklichsten zählt und deshalb eingehendere Besprechung
erfordert. Er besteht darin, daß unsere Parlamente von dem irrigen Glauben
beherrscht oder mindestens stark beeinflußt werden, alle ihnen nahetretenden,
namentlich aber die Verfassungsfragen ließen sich mit Anwendung formaler
Regeln lösen, und daß uicht blos die Fortschrittspartei, sondern auch Führer
der weiter rechts Stehenden von dem Bestreben geleitet werden, die Fülle und
Mannichfaltigkeit unseres nationalen Lebens in ein todtes Buchstabenrecht hin-
einzubannen. Wir sehen, mit anderen Worten, die Jurisprudenz in den Reihen
unserer liberalen Parteien und damit in den Verhandlungen des Reichstags
und der Landtage eine zu breite Stelle einnehmen, in den Debatten macht sich
ein Wesen geltend, das als Advokatengeist bezeichnet werden muß, und das er¬
klärt sich zum Theil daraus, daß wir in unseren Parlamenten zu viel Juristen
haben. "Unsere liberale Bewegung" -- so äußerte sich vor ewigen Jahren
ein hannover'scher Politiker, selbst liberal und selbst Jurist, vertraulich -- "ist
in der Hauptsache das Herandrängen der Advokaten zu größerer Geltung."
Er meinte die hannvver'schen Advokaten, aber sollte das nicht auch von anderen
gelten? Ein Blick auf die wichtige Rolle, welche dieser Stand in unserem
öffentlichen Leben spielt, zeigt deutlich, daß dem in Deutschland allenthalben
so ist.

Daß diese Erscheinung bei einigen von unseren Nachbarn, z. B. in Italien,
wo die Minister gewohnt sind, dem Advokatengeist im Parlamente das Feld
zu räumen, noch ärgere Folgen hat, als bei uns, ist kein Trost; denn es könnte
nnter einer weniger starken und standhaften Regierung, als die jetzige deutsche
ist, auch bei uns so werden. Der "Rechtsstaat" aber, den ein großer Theil


Grenzboten I. 1379. 32
Ueber einige Mängel an unseren Parlamenten.
ii.

Neben den im ersten Abschnitte dieser Betrachtungen hervorgehobenen
Mängeln unseres parlamentarischen Lebens ist noch ein weiterer zu nennen,
welchen der dort zitirte Zeitungsartikel nur kurz andeutete, der aber unserer
Ansicht nach zu den bedenklichsten zählt und deshalb eingehendere Besprechung
erfordert. Er besteht darin, daß unsere Parlamente von dem irrigen Glauben
beherrscht oder mindestens stark beeinflußt werden, alle ihnen nahetretenden,
namentlich aber die Verfassungsfragen ließen sich mit Anwendung formaler
Regeln lösen, und daß uicht blos die Fortschrittspartei, sondern auch Führer
der weiter rechts Stehenden von dem Bestreben geleitet werden, die Fülle und
Mannichfaltigkeit unseres nationalen Lebens in ein todtes Buchstabenrecht hin-
einzubannen. Wir sehen, mit anderen Worten, die Jurisprudenz in den Reihen
unserer liberalen Parteien und damit in den Verhandlungen des Reichstags
und der Landtage eine zu breite Stelle einnehmen, in den Debatten macht sich
ein Wesen geltend, das als Advokatengeist bezeichnet werden muß, und das er¬
klärt sich zum Theil daraus, daß wir in unseren Parlamenten zu viel Juristen
haben. „Unsere liberale Bewegung" — so äußerte sich vor ewigen Jahren
ein hannover'scher Politiker, selbst liberal und selbst Jurist, vertraulich — „ist
in der Hauptsache das Herandrängen der Advokaten zu größerer Geltung."
Er meinte die hannvver'schen Advokaten, aber sollte das nicht auch von anderen
gelten? Ein Blick auf die wichtige Rolle, welche dieser Stand in unserem
öffentlichen Leben spielt, zeigt deutlich, daß dem in Deutschland allenthalben
so ist.

Daß diese Erscheinung bei einigen von unseren Nachbarn, z. B. in Italien,
wo die Minister gewohnt sind, dem Advokatengeist im Parlamente das Feld
zu räumen, noch ärgere Folgen hat, als bei uns, ist kein Trost; denn es könnte
nnter einer weniger starken und standhaften Regierung, als die jetzige deutsche
ist, auch bei uns so werden. Der „Rechtsstaat" aber, den ein großer Theil


Grenzboten I. 1379. 32
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <pb facs="#f0253" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141664"/>
        <div n="1">
          <head> Ueber einige Mängel an unseren Parlamenten.<lb/>
ii. </head><lb/>
          <p xml:id="ID_771"> Neben den im ersten Abschnitte dieser Betrachtungen hervorgehobenen<lb/>
Mängeln unseres parlamentarischen Lebens ist noch ein weiterer zu nennen,<lb/>
welchen der dort zitirte Zeitungsartikel nur kurz andeutete, der aber unserer<lb/>
Ansicht nach zu den bedenklichsten zählt und deshalb eingehendere Besprechung<lb/>
erfordert. Er besteht darin, daß unsere Parlamente von dem irrigen Glauben<lb/>
beherrscht oder mindestens stark beeinflußt werden, alle ihnen nahetretenden,<lb/>
namentlich aber die Verfassungsfragen ließen sich mit Anwendung formaler<lb/>
Regeln lösen, und daß uicht blos die Fortschrittspartei, sondern auch Führer<lb/>
der weiter rechts Stehenden von dem Bestreben geleitet werden, die Fülle und<lb/>
Mannichfaltigkeit unseres nationalen Lebens in ein todtes Buchstabenrecht hin-<lb/>
einzubannen. Wir sehen, mit anderen Worten, die Jurisprudenz in den Reihen<lb/>
unserer liberalen Parteien und damit in den Verhandlungen des Reichstags<lb/>
und der Landtage eine zu breite Stelle einnehmen, in den Debatten macht sich<lb/>
ein Wesen geltend, das als Advokatengeist bezeichnet werden muß, und das er¬<lb/>
klärt sich zum Theil daraus, daß wir in unseren Parlamenten zu viel Juristen<lb/>
haben. &#x201E;Unsere liberale Bewegung" &#x2014; so äußerte sich vor ewigen Jahren<lb/>
ein hannover'scher Politiker, selbst liberal und selbst Jurist, vertraulich &#x2014; &#x201E;ist<lb/>
in der Hauptsache das Herandrängen der Advokaten zu größerer Geltung."<lb/>
Er meinte die hannvver'schen Advokaten, aber sollte das nicht auch von anderen<lb/>
gelten? Ein Blick auf die wichtige Rolle, welche dieser Stand in unserem<lb/>
öffentlichen Leben spielt, zeigt deutlich, daß dem in Deutschland allenthalben<lb/>
so ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_772" next="#ID_773"> Daß diese Erscheinung bei einigen von unseren Nachbarn, z. B. in Italien,<lb/>
wo die Minister gewohnt sind, dem Advokatengeist im Parlamente das Feld<lb/>
zu räumen, noch ärgere Folgen hat, als bei uns, ist kein Trost; denn es könnte<lb/>
nnter einer weniger starken und standhaften Regierung, als die jetzige deutsche<lb/>
ist, auch bei uns so werden. Der &#x201E;Rechtsstaat" aber, den ein großer Theil</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1379. 32</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0253] Ueber einige Mängel an unseren Parlamenten. ii. Neben den im ersten Abschnitte dieser Betrachtungen hervorgehobenen Mängeln unseres parlamentarischen Lebens ist noch ein weiterer zu nennen, welchen der dort zitirte Zeitungsartikel nur kurz andeutete, der aber unserer Ansicht nach zu den bedenklichsten zählt und deshalb eingehendere Besprechung erfordert. Er besteht darin, daß unsere Parlamente von dem irrigen Glauben beherrscht oder mindestens stark beeinflußt werden, alle ihnen nahetretenden, namentlich aber die Verfassungsfragen ließen sich mit Anwendung formaler Regeln lösen, und daß uicht blos die Fortschrittspartei, sondern auch Führer der weiter rechts Stehenden von dem Bestreben geleitet werden, die Fülle und Mannichfaltigkeit unseres nationalen Lebens in ein todtes Buchstabenrecht hin- einzubannen. Wir sehen, mit anderen Worten, die Jurisprudenz in den Reihen unserer liberalen Parteien und damit in den Verhandlungen des Reichstags und der Landtage eine zu breite Stelle einnehmen, in den Debatten macht sich ein Wesen geltend, das als Advokatengeist bezeichnet werden muß, und das er¬ klärt sich zum Theil daraus, daß wir in unseren Parlamenten zu viel Juristen haben. „Unsere liberale Bewegung" — so äußerte sich vor ewigen Jahren ein hannover'scher Politiker, selbst liberal und selbst Jurist, vertraulich — „ist in der Hauptsache das Herandrängen der Advokaten zu größerer Geltung." Er meinte die hannvver'schen Advokaten, aber sollte das nicht auch von anderen gelten? Ein Blick auf die wichtige Rolle, welche dieser Stand in unserem öffentlichen Leben spielt, zeigt deutlich, daß dem in Deutschland allenthalben so ist. Daß diese Erscheinung bei einigen von unseren Nachbarn, z. B. in Italien, wo die Minister gewohnt sind, dem Advokatengeist im Parlamente das Feld zu räumen, noch ärgere Folgen hat, als bei uns, ist kein Trost; denn es könnte nnter einer weniger starken und standhaften Regierung, als die jetzige deutsche ist, auch bei uns so werden. Der „Rechtsstaat" aber, den ein großer Theil Grenzboten I. 1379. 32

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/253
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/253>, abgerufen am 29.06.2024.