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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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Ile. Kungersnoth in ßhina.

Die letzten Berichte aus Shanghai und Peking über die Ausdehnung,
welche die seit einem Jahre wüthende Hungersnoth erlangt hat, übertreffen alles,
was uus an Schilderungen von ähnlichen Kalamitäten im Mittelalter bekannt
geworden und stellen völlig in Schatten, was jüngst über die Hungersnöthe
in Persien und Indien berichtet wurde. Es scheint hier eine jeuer großen und
radikalen Menschenausrottungen stattzufinden, die von Zeit zu Zeit stattfinden,
um die Ueberfüllungen zu beseitigen, welche das soziale Dasein ungemüthlich
machen. Nicht blos "das skrophulöse Gesindel" Heinrich Leo's geht hier zu
Grunde, sondern alles: hoch und niedrig, reich und arm. Es ist absolut nichts
Verzehrbares in ungeheuren Landstrichen mehr vorhanden, als Menschenfleisch,
und das ist denn auch reichlich zum Genußmittel gewählt worden in Gebieten,
die großer als Deutschland und Oesterreich-Ungarn zusammengenommen sind.

Ehe wir aber auf das entsetzliche Unglück selbst eingehen, möge es ge¬
stattet sein, einen Blick auf die Uebervölkerung Chinas zu werfen, die hier
wesentlich bedingend für die Hungersnoth mitwirkt. Etwa ein Drittel s ä in in t -
licher Menschen unseres Erdballs wohnt in Chinas man nimmt
jetzt, trotz der ungeheuren Verheerungen, welche die Tcnping-Kriege und andere
Rebellionen verursachten, noch 420 Millionen Einwohner für das Reich an, was mit
dem ziemlich gut durchgeführten Census von 1842 übereinstimmt, der 414,686,9!"4
Seelen ergab. Hütte seitdem die Bevölkerung in derselben Weise wie früher
zugenommen, so müßte sie jetzt gegen 500 Millionen betragen, während man
1400 Millionen sür die ganze Erde rechnet. Der tiefe Frieden, welcher die
außerordentliche Vermehrung von 1711 bis 1842 gestattete, hatte bald darauf
ein Ende und obwohl die Bevölkerung anfangs noch für ein paar Jahre zu¬
genommen haben mag, hat sie sich doch gewiß durch die furchtbaren Schläge,
die China seitdem erlitten, gewiß wieder vermindert. Durch die Taiping-
Rebellion allein sollen gegen 30 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben;
und obwohl diese Zahl als phantastisch gelten mag, erscheint sie doch z. B.
dem Herrn von Richthofen, welcher wochenlang durch Distrikte reiste, wo von
einer sehr dichten Landbevölkerung nur drei Prozent geblieben sind und die
Einwohner großer volkreicher Städte, die bis zu einer halben oder selbst einer
Million Menschen zählten, bis zum letzten Manne niedergemacht sind, als nicht zu
hoch gegriffen und wahrscheinlich noch zu niedrig. Dazu kommen die Verluste
an Menschenleben durch die mohammedanische Rebellion in den Provinzen
Schensi und Kansu, welche sich ebenfalls nach Millionen beziffern, da auch
dort das System der Niedermetzelung ganzer Städte angewendet wurde, ferner


Grenzboten III, 1V78. 10
Ile. Kungersnoth in ßhina.

Die letzten Berichte aus Shanghai und Peking über die Ausdehnung,
welche die seit einem Jahre wüthende Hungersnoth erlangt hat, übertreffen alles,
was uus an Schilderungen von ähnlichen Kalamitäten im Mittelalter bekannt
geworden und stellen völlig in Schatten, was jüngst über die Hungersnöthe
in Persien und Indien berichtet wurde. Es scheint hier eine jeuer großen und
radikalen Menschenausrottungen stattzufinden, die von Zeit zu Zeit stattfinden,
um die Ueberfüllungen zu beseitigen, welche das soziale Dasein ungemüthlich
machen. Nicht blos „das skrophulöse Gesindel" Heinrich Leo's geht hier zu
Grunde, sondern alles: hoch und niedrig, reich und arm. Es ist absolut nichts
Verzehrbares in ungeheuren Landstrichen mehr vorhanden, als Menschenfleisch,
und das ist denn auch reichlich zum Genußmittel gewählt worden in Gebieten,
die großer als Deutschland und Oesterreich-Ungarn zusammengenommen sind.

Ehe wir aber auf das entsetzliche Unglück selbst eingehen, möge es ge¬
stattet sein, einen Blick auf die Uebervölkerung Chinas zu werfen, die hier
wesentlich bedingend für die Hungersnoth mitwirkt. Etwa ein Drittel s ä in in t -
licher Menschen unseres Erdballs wohnt in Chinas man nimmt
jetzt, trotz der ungeheuren Verheerungen, welche die Tcnping-Kriege und andere
Rebellionen verursachten, noch 420 Millionen Einwohner für das Reich an, was mit
dem ziemlich gut durchgeführten Census von 1842 übereinstimmt, der 414,686,9!»4
Seelen ergab. Hütte seitdem die Bevölkerung in derselben Weise wie früher
zugenommen, so müßte sie jetzt gegen 500 Millionen betragen, während man
1400 Millionen sür die ganze Erde rechnet. Der tiefe Frieden, welcher die
außerordentliche Vermehrung von 1711 bis 1842 gestattete, hatte bald darauf
ein Ende und obwohl die Bevölkerung anfangs noch für ein paar Jahre zu¬
genommen haben mag, hat sie sich doch gewiß durch die furchtbaren Schläge,
die China seitdem erlitten, gewiß wieder vermindert. Durch die Taiping-
Rebellion allein sollen gegen 30 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben;
und obwohl diese Zahl als phantastisch gelten mag, erscheint sie doch z. B.
dem Herrn von Richthofen, welcher wochenlang durch Distrikte reiste, wo von
einer sehr dichten Landbevölkerung nur drei Prozent geblieben sind und die
Einwohner großer volkreicher Städte, die bis zu einer halben oder selbst einer
Million Menschen zählten, bis zum letzten Manne niedergemacht sind, als nicht zu
hoch gegriffen und wahrscheinlich noch zu niedrig. Dazu kommen die Verluste
an Menschenleben durch die mohammedanische Rebellion in den Provinzen
Schensi und Kansu, welche sich ebenfalls nach Millionen beziffern, da auch
dort das System der Niedermetzelung ganzer Städte angewendet wurde, ferner


Grenzboten III, 1V78. 10
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[0081] Ile. Kungersnoth in ßhina. Die letzten Berichte aus Shanghai und Peking über die Ausdehnung, welche die seit einem Jahre wüthende Hungersnoth erlangt hat, übertreffen alles, was uus an Schilderungen von ähnlichen Kalamitäten im Mittelalter bekannt geworden und stellen völlig in Schatten, was jüngst über die Hungersnöthe in Persien und Indien berichtet wurde. Es scheint hier eine jeuer großen und radikalen Menschenausrottungen stattzufinden, die von Zeit zu Zeit stattfinden, um die Ueberfüllungen zu beseitigen, welche das soziale Dasein ungemüthlich machen. Nicht blos „das skrophulöse Gesindel" Heinrich Leo's geht hier zu Grunde, sondern alles: hoch und niedrig, reich und arm. Es ist absolut nichts Verzehrbares in ungeheuren Landstrichen mehr vorhanden, als Menschenfleisch, und das ist denn auch reichlich zum Genußmittel gewählt worden in Gebieten, die großer als Deutschland und Oesterreich-Ungarn zusammengenommen sind. Ehe wir aber auf das entsetzliche Unglück selbst eingehen, möge es ge¬ stattet sein, einen Blick auf die Uebervölkerung Chinas zu werfen, die hier wesentlich bedingend für die Hungersnoth mitwirkt. Etwa ein Drittel s ä in in t - licher Menschen unseres Erdballs wohnt in Chinas man nimmt jetzt, trotz der ungeheuren Verheerungen, welche die Tcnping-Kriege und andere Rebellionen verursachten, noch 420 Millionen Einwohner für das Reich an, was mit dem ziemlich gut durchgeführten Census von 1842 übereinstimmt, der 414,686,9!»4 Seelen ergab. Hütte seitdem die Bevölkerung in derselben Weise wie früher zugenommen, so müßte sie jetzt gegen 500 Millionen betragen, während man 1400 Millionen sür die ganze Erde rechnet. Der tiefe Frieden, welcher die außerordentliche Vermehrung von 1711 bis 1842 gestattete, hatte bald darauf ein Ende und obwohl die Bevölkerung anfangs noch für ein paar Jahre zu¬ genommen haben mag, hat sie sich doch gewiß durch die furchtbaren Schläge, die China seitdem erlitten, gewiß wieder vermindert. Durch die Taiping- Rebellion allein sollen gegen 30 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben; und obwohl diese Zahl als phantastisch gelten mag, erscheint sie doch z. B. dem Herrn von Richthofen, welcher wochenlang durch Distrikte reiste, wo von einer sehr dichten Landbevölkerung nur drei Prozent geblieben sind und die Einwohner großer volkreicher Städte, die bis zu einer halben oder selbst einer Million Menschen zählten, bis zum letzten Manne niedergemacht sind, als nicht zu hoch gegriffen und wahrscheinlich noch zu niedrig. Dazu kommen die Verluste an Menschenleben durch die mohammedanische Rebellion in den Provinzen Schensi und Kansu, welche sich ebenfalls nach Millionen beziffern, da auch dort das System der Niedermetzelung ganzer Städte angewendet wurde, ferner Grenzboten III, 1V78. 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/81>, abgerufen am 22.07.2024.