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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Ale Briefwechsel Lasasse-Kodöertus.

In der Aera der Postkarten und Telegramme ist ein eigenthümlicher und
interessanter Zweig des deutschen Schriftwesens in unaufhaltsamem Aussterben
begriffen: nämlich die Briefliteratur. Für den zukünftigen Historiker wird sich
die Lücke einmal schmerzlich fühlbar machen, wenn es die intime Beleuchtung
der gegenwärtigen Epoche gilt; schwerlich lebt sich heute noch eine irgend
nennenswerthe Zahl unserer öffentlichen Männer ganz und voll in einem
geistig bedeutsamen und umfassenden Briefwechsel aus. Unter den vermuthlich
schädlichen Ausnahmen steht Ferdinand Lassalle in erster Reihe. Er führte
eine sehr ausgebreitete und wie kundige Urtheiler bezeugen, in alle zeitge¬
nössischen Probleme tief eindringende Korrespondenz. Leider hat kein günstiger
Stern über ihr gewaltet. In dem garstigen Zanke, der sich nach seinem Tode
zwischen seiner Familie, der Gräfin Hatzfeld und zum Theil auch seinen politischen
Anhängern um seinen Nachlaß entspann, soll Vieles verzettelt und zerstreut
worden sein; Anderes ist in wenig erfreulicher Weise edirt worden. Bernhard
Becker hat aus den Copirbüchern des allgemeinen deutschen Arbeitervereins die
Briefe Lassalle's herausgegeben, die sich speciell aus seine Agitation bezogen, an die
Bevollmächtigten, Vorstandsmitglieder :c. des Vereins gerichtet waren. Leider in
ganz ungenügender, unvollständiger, für pamphletische Zwecke zurechtgestutzter
Form. Wieder die Gräfin Hatzseldt hat alle auf die Affaire Dönniges bezüglichen
Documente und Schriftstücke, darunter bogenlange Briefe Lassalle's gesammelt
und gemeinsam mit Liebknecht zu einem den socialistischen Agitator verhimmeln¬
den Buche verarbeitet, das bereits gedruckt war, als es noch in zwölfter Stunde
auf den Rath vorsichtiger Freunde zum Tode des Einstampfens verurtheilt und
nur seinem actenmäßigen Inhalte nach, auf Grund einer xsr use^s erlangten
Abschrift, dnrch Bernhard Becker in dem entstellenden Rahmen eines wider¬
wärtigen Pamphlets veröffentlicht wurde. Eine dritte Publication ähnlicher
Art die Briefe Lassalle's an eine russische Dame, ist bereits von den "Grenz¬
boten" auf die relative Bedeutungslosigkeit zurückgeführt worden, welche ihr
gebührt. Nach diesen trüben Erfahrungen kann es bei der eminent actuellen
Bedeutung, welche Lassalle für die politische Zeitgeschichte hat, nur mit großer
Genugthuung erfüllen, wenn endlich aus den noch ungehobener Schätzen seines
Briefwechsels eine Serie von Schreiben auftaucht, die dem ganzen Manne ge¬
recht wird, so wie er nun einmal war, in seinen guten und in seinen schlechten
Seiten, und die zugleich eine unvergleichliche Quelle zur Geschichte des deutschen,
politischen wie wissenschaftlichen Socialismus darstellt. Es sind neunzehn
Briefe, welche Lassalle während seiner Agitation an Rodbertns richtete, um
diesen hervorragenden Gelehrten für sich zu gewinnen; leider fehlen alle Ant-


Ale Briefwechsel Lasasse-Kodöertus.

In der Aera der Postkarten und Telegramme ist ein eigenthümlicher und
interessanter Zweig des deutschen Schriftwesens in unaufhaltsamem Aussterben
begriffen: nämlich die Briefliteratur. Für den zukünftigen Historiker wird sich
die Lücke einmal schmerzlich fühlbar machen, wenn es die intime Beleuchtung
der gegenwärtigen Epoche gilt; schwerlich lebt sich heute noch eine irgend
nennenswerthe Zahl unserer öffentlichen Männer ganz und voll in einem
geistig bedeutsamen und umfassenden Briefwechsel aus. Unter den vermuthlich
schädlichen Ausnahmen steht Ferdinand Lassalle in erster Reihe. Er führte
eine sehr ausgebreitete und wie kundige Urtheiler bezeugen, in alle zeitge¬
nössischen Probleme tief eindringende Korrespondenz. Leider hat kein günstiger
Stern über ihr gewaltet. In dem garstigen Zanke, der sich nach seinem Tode
zwischen seiner Familie, der Gräfin Hatzfeld und zum Theil auch seinen politischen
Anhängern um seinen Nachlaß entspann, soll Vieles verzettelt und zerstreut
worden sein; Anderes ist in wenig erfreulicher Weise edirt worden. Bernhard
Becker hat aus den Copirbüchern des allgemeinen deutschen Arbeitervereins die
Briefe Lassalle's herausgegeben, die sich speciell aus seine Agitation bezogen, an die
Bevollmächtigten, Vorstandsmitglieder :c. des Vereins gerichtet waren. Leider in
ganz ungenügender, unvollständiger, für pamphletische Zwecke zurechtgestutzter
Form. Wieder die Gräfin Hatzseldt hat alle auf die Affaire Dönniges bezüglichen
Documente und Schriftstücke, darunter bogenlange Briefe Lassalle's gesammelt
und gemeinsam mit Liebknecht zu einem den socialistischen Agitator verhimmeln¬
den Buche verarbeitet, das bereits gedruckt war, als es noch in zwölfter Stunde
auf den Rath vorsichtiger Freunde zum Tode des Einstampfens verurtheilt und
nur seinem actenmäßigen Inhalte nach, auf Grund einer xsr use^s erlangten
Abschrift, dnrch Bernhard Becker in dem entstellenden Rahmen eines wider¬
wärtigen Pamphlets veröffentlicht wurde. Eine dritte Publication ähnlicher
Art die Briefe Lassalle's an eine russische Dame, ist bereits von den „Grenz¬
boten" auf die relative Bedeutungslosigkeit zurückgeführt worden, welche ihr
gebührt. Nach diesen trüben Erfahrungen kann es bei der eminent actuellen
Bedeutung, welche Lassalle für die politische Zeitgeschichte hat, nur mit großer
Genugthuung erfüllen, wenn endlich aus den noch ungehobener Schätzen seines
Briefwechsels eine Serie von Schreiben auftaucht, die dem ganzen Manne ge¬
recht wird, so wie er nun einmal war, in seinen guten und in seinen schlechten
Seiten, und die zugleich eine unvergleichliche Quelle zur Geschichte des deutschen,
politischen wie wissenschaftlichen Socialismus darstellt. Es sind neunzehn
Briefe, welche Lassalle während seiner Agitation an Rodbertns richtete, um
diesen hervorragenden Gelehrten für sich zu gewinnen; leider fehlen alle Ant-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/176>, abgerufen am 27.07.2024.