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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Schweizer Keisebriefe.
ii.

Wer mit dem ersten oder zweiten Vormittagsschiffe Luzern in der Richtung
nach Mieter verläßt und dnrch öftere Fahrt Zeit zur Beobachtung seiner
Reisegesellschaft gewonnen hat, wird nur bis Vitznciu über einen starken Prozent¬
satz von Engländern beiderlei Geschlechts klagen können. Dort steigt beinahe
Alles ein's Land, was mit englischem Blute auf dem Dampfer weilt, um die
relative Neuheit der Rigibahn zu genießen. Von Vitznau ab ist man fast aus¬
schließlich in deutscher Gesellschaft. Deutsche bilden überall in den zahlreichen
lachenden Ortschaften an, um und über dem Vierwaldstättersee die große Mehr¬
zahl der Gäste. Dieselbe international-statistische Wahrnehmung ist überhaupt
in der Schweiz und selbst bis tief nach Italien hinein zu machen. Die Hoteliers
in Rom, die früher außer ihrer Muttersprache uur Französisch und Englisch
sprachen, verstehen jetzt schon leidlich Deutsch. Und der biedere Schweizer lernt
uus allmählich schätzen.

Ein großer Theil der Deutschen, die in Vitzuau der Versuchung einer
Nigifcihrt vorläufig widerstehen, verfolgt ernste Alpentonren oder strebt
Italien zu. Aber sehr viele von ihnen begnügen sich auch damit, nur den
Vierwaldstättersee abzufahren, nach Flüeleu und wieder zurück, weil gerade
das Rundfahrtbillet oder irgend eine andere Zwangsroute, der sie sich ergeben
haben, so lautet. Ihnen kann uicht dringend genug gerathen werden, abseits
der großen Heerstraße in irgend eines der Seitenthäler des Vierwaldstättersees
einzudringen. Sei es über Stansstadt nach Engelberg, um hier die leichteste
Besteigung eines namhaften Trägers ewigen Firnschnees, des Titus, auszu¬
führen und dann vielleicht des andern Tags über den schwierigen, aber sehr
lohnenden Hochpaß der Surenen (syr. Sürknen) nach dem Urner Boden hinab¬
zusteigen ins Thal der Rensz. Oder sei es von Brunnen über Schwyz nach
dem reizend gelegenen und ungewöhnlich billigen Hotel Bellevue in Rickenbach,
von dem aus der Große Mythen in drei Stunden zu ersteigen ist. Oder sei
es endlich -- und das möchten nur den Landsleuten, die nicht zu knapp in
der Zeit sind, in erster Linie empfehlen -- eine Wanderung in das Maderaner-
thal und zurück über die großartig schöne Alpenhöhe der Staffeln.

Es ist ja nicht leicht, in diesen Thälern, wo der Föhn urplötzlich von
Süden heranschleicht und in einer halben Stunde das ganze Gelände umzieht
und schwarzes Gewölk am Himmel herjagt, für zwei bis drei Tage -- und
soviel sollte man für das Madercmerthal rechnen -- selbst im hohen Sommer
klares Wetter zu finden. Aber beim Föhn ist es auch drunten am See uicht


Schweizer Keisebriefe.
ii.

Wer mit dem ersten oder zweiten Vormittagsschiffe Luzern in der Richtung
nach Mieter verläßt und dnrch öftere Fahrt Zeit zur Beobachtung seiner
Reisegesellschaft gewonnen hat, wird nur bis Vitznciu über einen starken Prozent¬
satz von Engländern beiderlei Geschlechts klagen können. Dort steigt beinahe
Alles ein's Land, was mit englischem Blute auf dem Dampfer weilt, um die
relative Neuheit der Rigibahn zu genießen. Von Vitznau ab ist man fast aus¬
schließlich in deutscher Gesellschaft. Deutsche bilden überall in den zahlreichen
lachenden Ortschaften an, um und über dem Vierwaldstättersee die große Mehr¬
zahl der Gäste. Dieselbe international-statistische Wahrnehmung ist überhaupt
in der Schweiz und selbst bis tief nach Italien hinein zu machen. Die Hoteliers
in Rom, die früher außer ihrer Muttersprache uur Französisch und Englisch
sprachen, verstehen jetzt schon leidlich Deutsch. Und der biedere Schweizer lernt
uus allmählich schätzen.

Ein großer Theil der Deutschen, die in Vitzuau der Versuchung einer
Nigifcihrt vorläufig widerstehen, verfolgt ernste Alpentonren oder strebt
Italien zu. Aber sehr viele von ihnen begnügen sich auch damit, nur den
Vierwaldstättersee abzufahren, nach Flüeleu und wieder zurück, weil gerade
das Rundfahrtbillet oder irgend eine andere Zwangsroute, der sie sich ergeben
haben, so lautet. Ihnen kann uicht dringend genug gerathen werden, abseits
der großen Heerstraße in irgend eines der Seitenthäler des Vierwaldstättersees
einzudringen. Sei es über Stansstadt nach Engelberg, um hier die leichteste
Besteigung eines namhaften Trägers ewigen Firnschnees, des Titus, auszu¬
führen und dann vielleicht des andern Tags über den schwierigen, aber sehr
lohnenden Hochpaß der Surenen (syr. Sürknen) nach dem Urner Boden hinab¬
zusteigen ins Thal der Rensz. Oder sei es von Brunnen über Schwyz nach
dem reizend gelegenen und ungewöhnlich billigen Hotel Bellevue in Rickenbach,
von dem aus der Große Mythen in drei Stunden zu ersteigen ist. Oder sei
es endlich — und das möchten nur den Landsleuten, die nicht zu knapp in
der Zeit sind, in erster Linie empfehlen — eine Wanderung in das Maderaner-
thal und zurück über die großartig schöne Alpenhöhe der Staffeln.

Es ist ja nicht leicht, in diesen Thälern, wo der Föhn urplötzlich von
Süden heranschleicht und in einer halben Stunde das ganze Gelände umzieht
und schwarzes Gewölk am Himmel herjagt, für zwei bis drei Tage — und
soviel sollte man für das Madercmerthal rechnen — selbst im hohen Sommer
klares Wetter zu finden. Aber beim Föhn ist es auch drunten am See uicht


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[0472] Schweizer Keisebriefe. ii. Wer mit dem ersten oder zweiten Vormittagsschiffe Luzern in der Richtung nach Mieter verläßt und dnrch öftere Fahrt Zeit zur Beobachtung seiner Reisegesellschaft gewonnen hat, wird nur bis Vitznciu über einen starken Prozent¬ satz von Engländern beiderlei Geschlechts klagen können. Dort steigt beinahe Alles ein's Land, was mit englischem Blute auf dem Dampfer weilt, um die relative Neuheit der Rigibahn zu genießen. Von Vitznau ab ist man fast aus¬ schließlich in deutscher Gesellschaft. Deutsche bilden überall in den zahlreichen lachenden Ortschaften an, um und über dem Vierwaldstättersee die große Mehr¬ zahl der Gäste. Dieselbe international-statistische Wahrnehmung ist überhaupt in der Schweiz und selbst bis tief nach Italien hinein zu machen. Die Hoteliers in Rom, die früher außer ihrer Muttersprache uur Französisch und Englisch sprachen, verstehen jetzt schon leidlich Deutsch. Und der biedere Schweizer lernt uus allmählich schätzen. Ein großer Theil der Deutschen, die in Vitzuau der Versuchung einer Nigifcihrt vorläufig widerstehen, verfolgt ernste Alpentonren oder strebt Italien zu. Aber sehr viele von ihnen begnügen sich auch damit, nur den Vierwaldstättersee abzufahren, nach Flüeleu und wieder zurück, weil gerade das Rundfahrtbillet oder irgend eine andere Zwangsroute, der sie sich ergeben haben, so lautet. Ihnen kann uicht dringend genug gerathen werden, abseits der großen Heerstraße in irgend eines der Seitenthäler des Vierwaldstättersees einzudringen. Sei es über Stansstadt nach Engelberg, um hier die leichteste Besteigung eines namhaften Trägers ewigen Firnschnees, des Titus, auszu¬ führen und dann vielleicht des andern Tags über den schwierigen, aber sehr lohnenden Hochpaß der Surenen (syr. Sürknen) nach dem Urner Boden hinab¬ zusteigen ins Thal der Rensz. Oder sei es von Brunnen über Schwyz nach dem reizend gelegenen und ungewöhnlich billigen Hotel Bellevue in Rickenbach, von dem aus der Große Mythen in drei Stunden zu ersteigen ist. Oder sei es endlich — und das möchten nur den Landsleuten, die nicht zu knapp in der Zeit sind, in erster Linie empfehlen — eine Wanderung in das Maderaner- thal und zurück über die großartig schöne Alpenhöhe der Staffeln. Es ist ja nicht leicht, in diesen Thälern, wo der Föhn urplötzlich von Süden heranschleicht und in einer halben Stunde das ganze Gelände umzieht und schwarzes Gewölk am Himmel herjagt, für zwei bis drei Tage — und soviel sollte man für das Madercmerthal rechnen — selbst im hohen Sommer klares Wetter zu finden. Aber beim Föhn ist es auch drunten am See uicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/472>, abgerufen am 28.09.2024.