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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Mit Januar 18?" beginnt diese Zeitschrift das I. Quartal ihres
35. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Posi-
austalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro
Quartal 9 Mark.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellscl afren,
Kaffeehäuser und Konditoreien werden um gefällige Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten. Die BerlagshandlunH. Leipzig, im Dezember 1875.

Die deutsche Strafgeschnovesse.

Das deutsche Strafgesetzbuch war die wichtigste Gesetzgebungsarbeit des
ersten (norddeutschen) Reichstags. Denn es war, außer der Verfassung, das
erste große Stück Rechtseinheit, das in Deutschland gewonnen wurde. Noch
ehe das Jahr 1871 begann, mit dem das norddeutsche Strafgesetzbuch in
Kraft trat, war das deutsche Reich im Werden. Am 15. Mai 1871 schon
wurde das deutsche Strafgesetzbuch für das Reich erlassen.

Wie alle wichtigeren Gesetze der letzten neun Jahre, war das deutsche
Strafgesetzbuch ein Werk des Compromisses.

Freiheiten, um welche der deutsche Liberalismus bis zum Jahr 1870
vergeblich gestritten, waren hier endlich erkämpft: Die Redefreiheit der Einzel¬
landtage; die mildere Ahndung politischer Verbrechen, wenn sie nicht aus
ehrloser Gesinnung hervorgegangen, die Beseitigung der Haß- und Verachtungs¬
paragraphen; die richtigere Begriffsbestimmung und Klassifikation von Maje-
stätsdeleidigungen; die Beschränkung der Strafbarkeit des Widerstandes gegen
Beamte auf die Fälle, wenn der Beamte innerhalb seiner Zuständigkeit und
in der rechtmäßigen Ausübung seines Amtes gehandelt; die Straflosigkeit
von Beleidigungen, wenn diese zur Wahrnehmung berechtigter Interessen (auch
Seiten der Presse) erfolgten, u. s. w.

In weiterem Sinne können auch andere wichtige Neuerungen des deutschen
Strafgesetzbuchs als Concessionen an den Liberalismus betrachtet werden, ob¬
wohl sie mit Politik nichts zu thun haben, höchstens mit Criminalpolitik im
engsten Sinne des Wortes und obwohl sie zum Theil schon im Regierungsent¬
wurfe vorhanden waren. Denn diese Neuerungen waren von dem Liberalismus
im Staate und in der Wissenschaft zuerst verlangt und vertheidigt worden.
Dahin zählen wir: die größere Autonomie der Privat - Parteien und des
Richters in der Strafrechtspflege, wie solche durch die Ausdehnung der An¬
tragsvergehen, die Möglichkeit von Privatbuße ze. den Parteien, und durch
einen meist weiten Spielraum zwischen dem geringsten und höchsten Straf-


Grenzboten lo. 1875. 36

Mit Januar 18?« beginnt diese Zeitschrift das I. Quartal ihres
35. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Posi-
austalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro
Quartal 9 Mark.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellscl afren,
Kaffeehäuser und Konditoreien werden um gefällige Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten. Die BerlagshandlunH. Leipzig, im Dezember 1875.

Die deutsche Strafgeschnovesse.

Das deutsche Strafgesetzbuch war die wichtigste Gesetzgebungsarbeit des
ersten (norddeutschen) Reichstags. Denn es war, außer der Verfassung, das
erste große Stück Rechtseinheit, das in Deutschland gewonnen wurde. Noch
ehe das Jahr 1871 begann, mit dem das norddeutsche Strafgesetzbuch in
Kraft trat, war das deutsche Reich im Werden. Am 15. Mai 1871 schon
wurde das deutsche Strafgesetzbuch für das Reich erlassen.

Wie alle wichtigeren Gesetze der letzten neun Jahre, war das deutsche
Strafgesetzbuch ein Werk des Compromisses.

Freiheiten, um welche der deutsche Liberalismus bis zum Jahr 1870
vergeblich gestritten, waren hier endlich erkämpft: Die Redefreiheit der Einzel¬
landtage; die mildere Ahndung politischer Verbrechen, wenn sie nicht aus
ehrloser Gesinnung hervorgegangen, die Beseitigung der Haß- und Verachtungs¬
paragraphen; die richtigere Begriffsbestimmung und Klassifikation von Maje-
stätsdeleidigungen; die Beschränkung der Strafbarkeit des Widerstandes gegen
Beamte auf die Fälle, wenn der Beamte innerhalb seiner Zuständigkeit und
in der rechtmäßigen Ausübung seines Amtes gehandelt; die Straflosigkeit
von Beleidigungen, wenn diese zur Wahrnehmung berechtigter Interessen (auch
Seiten der Presse) erfolgten, u. s. w.

In weiterem Sinne können auch andere wichtige Neuerungen des deutschen
Strafgesetzbuchs als Concessionen an den Liberalismus betrachtet werden, ob¬
wohl sie mit Politik nichts zu thun haben, höchstens mit Criminalpolitik im
engsten Sinne des Wortes und obwohl sie zum Theil schon im Regierungsent¬
wurfe vorhanden waren. Denn diese Neuerungen waren von dem Liberalismus
im Staate und in der Wissenschaft zuerst verlangt und vertheidigt worden.
Dahin zählen wir: die größere Autonomie der Privat - Parteien und des
Richters in der Strafrechtspflege, wie solche durch die Ausdehnung der An¬
tragsvergehen, die Möglichkeit von Privatbuße ze. den Parteien, und durch
einen meist weiten Spielraum zwischen dem geringsten und höchsten Straf-


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[0445] Mit Januar 18?« beginnt diese Zeitschrift das I. Quartal ihres 35. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Posi- austalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro Quartal 9 Mark. Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellscl afren, Kaffeehäuser und Konditoreien werden um gefällige Berücksichtigung derselben freundlichst gebeten. Die BerlagshandlunH. Leipzig, im Dezember 1875. Die deutsche Strafgeschnovesse. Das deutsche Strafgesetzbuch war die wichtigste Gesetzgebungsarbeit des ersten (norddeutschen) Reichstags. Denn es war, außer der Verfassung, das erste große Stück Rechtseinheit, das in Deutschland gewonnen wurde. Noch ehe das Jahr 1871 begann, mit dem das norddeutsche Strafgesetzbuch in Kraft trat, war das deutsche Reich im Werden. Am 15. Mai 1871 schon wurde das deutsche Strafgesetzbuch für das Reich erlassen. Wie alle wichtigeren Gesetze der letzten neun Jahre, war das deutsche Strafgesetzbuch ein Werk des Compromisses. Freiheiten, um welche der deutsche Liberalismus bis zum Jahr 1870 vergeblich gestritten, waren hier endlich erkämpft: Die Redefreiheit der Einzel¬ landtage; die mildere Ahndung politischer Verbrechen, wenn sie nicht aus ehrloser Gesinnung hervorgegangen, die Beseitigung der Haß- und Verachtungs¬ paragraphen; die richtigere Begriffsbestimmung und Klassifikation von Maje- stätsdeleidigungen; die Beschränkung der Strafbarkeit des Widerstandes gegen Beamte auf die Fälle, wenn der Beamte innerhalb seiner Zuständigkeit und in der rechtmäßigen Ausübung seines Amtes gehandelt; die Straflosigkeit von Beleidigungen, wenn diese zur Wahrnehmung berechtigter Interessen (auch Seiten der Presse) erfolgten, u. s. w. In weiterem Sinne können auch andere wichtige Neuerungen des deutschen Strafgesetzbuchs als Concessionen an den Liberalismus betrachtet werden, ob¬ wohl sie mit Politik nichts zu thun haben, höchstens mit Criminalpolitik im engsten Sinne des Wortes und obwohl sie zum Theil schon im Regierungsent¬ wurfe vorhanden waren. Denn diese Neuerungen waren von dem Liberalismus im Staate und in der Wissenschaft zuerst verlangt und vertheidigt worden. Dahin zählen wir: die größere Autonomie der Privat - Parteien und des Richters in der Strafrechtspflege, wie solche durch die Ausdehnung der An¬ tragsvergehen, die Möglichkeit von Privatbuße ze. den Parteien, und durch einen meist weiten Spielraum zwischen dem geringsten und höchsten Straf- Grenzboten lo. 1875. 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/445>, abgerufen am 22.07.2024.