Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Lin deutscher AepubtRaner im Ausland über unsre
Zustände.

(Blätter im Winde. Von Johannes Scherr. Leipzig bei Günther 1875.)

Nach der Natur der Dinge hat jedes seine zwei Seiten, und es kommt
darauf an, welche von beiden der Auffassende von seinem Standpunkt und nach
seinen Interessen im Auge hat; aber so ist nach der Natur der Menschen der
eine mehr geneigt die Lichtseite zu betrachten, während der andere sich am
Schatten weidet, indem jenem das Positive, Gelungene, diesem das Negative
oder noch Mangelnde zunächst sich aufdrängt. Auch die Nähe und Ferne, die
zeitliche wie die räumliche, macht etwas aus. Wenn nun ein mit dem Doppel¬
klick des Humors begabter Mann siegreich pessimistisch die Verkehrtheiten und
das Elend des Lebens hervorhebt und doch optimistisch an das Gute und Schöne
glaubt, sich unter das Banner des Idealismus stellt und es sich zur Lebens¬
aufgabe macht, mit scherzenden Spott und zürnendem Ernst seinem Volke die
Wahrheit zu sagen, als theilnehmender Beobachter von draußen, wohin ihn
die Woge revolutionärer Bewegung verschlagen, so mögen seine Worte uns
sowohl zur Orientirung dienen, als wir sie auch berichtigen können. Wider¬
spruch und Prüfung allein führen zur Selbsterkenntniß. Johannes Scherr ist
ein solcher Mann. Er pflegt rasch zu sammeln, was er in Zeitschriften ver¬
öffentlicht , und in Vor- und Nachworten sich über die Weltlage, vornehmlich
über Deutschland zu verbreiten. So hat er diesmal einige historische Aufsätze,
wie über Lucrezia Borgia, über den letzten König von Peru, mit zwei treff¬
lichen literarischen Kritiken, über Sealssield und Annette von Droste, und
mit den Wanderungen eines Elysionärs zusammengestellt, die allzufrüh ab¬
brachen, als in der "Gegenwart" eine im Stil von Rabelais erzählte Parabel
dem Redacteur Paul Lindau den unfreiwilligen Aufenthalt in einer Zelle am
Plötzensee eingetragen. Das Buch betitelt er "Blätter im Winde", und leitet
es ein mit einem 99 Seiten langen Sendschreiben, in welchem er sM über
die Deutschland gegenwärtig bewegenden Fragen ausspricht. Dazu kommt, daß
er seine deutsche Cultur- und Sittengeschichte in der sechsten Auflage bis auf


Gnnzboten IV. 187S. 41
Lin deutscher AepubtRaner im Ausland über unsre
Zustände.

(Blätter im Winde. Von Johannes Scherr. Leipzig bei Günther 1875.)

Nach der Natur der Dinge hat jedes seine zwei Seiten, und es kommt
darauf an, welche von beiden der Auffassende von seinem Standpunkt und nach
seinen Interessen im Auge hat; aber so ist nach der Natur der Menschen der
eine mehr geneigt die Lichtseite zu betrachten, während der andere sich am
Schatten weidet, indem jenem das Positive, Gelungene, diesem das Negative
oder noch Mangelnde zunächst sich aufdrängt. Auch die Nähe und Ferne, die
zeitliche wie die räumliche, macht etwas aus. Wenn nun ein mit dem Doppel¬
klick des Humors begabter Mann siegreich pessimistisch die Verkehrtheiten und
das Elend des Lebens hervorhebt und doch optimistisch an das Gute und Schöne
glaubt, sich unter das Banner des Idealismus stellt und es sich zur Lebens¬
aufgabe macht, mit scherzenden Spott und zürnendem Ernst seinem Volke die
Wahrheit zu sagen, als theilnehmender Beobachter von draußen, wohin ihn
die Woge revolutionärer Bewegung verschlagen, so mögen seine Worte uns
sowohl zur Orientirung dienen, als wir sie auch berichtigen können. Wider¬
spruch und Prüfung allein führen zur Selbsterkenntniß. Johannes Scherr ist
ein solcher Mann. Er pflegt rasch zu sammeln, was er in Zeitschriften ver¬
öffentlicht , und in Vor- und Nachworten sich über die Weltlage, vornehmlich
über Deutschland zu verbreiten. So hat er diesmal einige historische Aufsätze,
wie über Lucrezia Borgia, über den letzten König von Peru, mit zwei treff¬
lichen literarischen Kritiken, über Sealssield und Annette von Droste, und
mit den Wanderungen eines Elysionärs zusammengestellt, die allzufrüh ab¬
brachen, als in der „Gegenwart" eine im Stil von Rabelais erzählte Parabel
dem Redacteur Paul Lindau den unfreiwilligen Aufenthalt in einer Zelle am
Plötzensee eingetragen. Das Buch betitelt er „Blätter im Winde", und leitet
es ein mit einem 99 Seiten langen Sendschreiben, in welchem er sM über
die Deutschland gegenwärtig bewegenden Fragen ausspricht. Dazu kommt, daß
er seine deutsche Cultur- und Sittengeschichte in der sechsten Auflage bis auf


Gnnzboten IV. 187S. 41
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0325" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/134671"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Lin deutscher AepubtRaner im Ausland über unsre<lb/>
Zustände.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_982"> (Blätter im Winde.  Von Johannes Scherr.  Leipzig bei Günther 1875.)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_983" next="#ID_984"> Nach der Natur der Dinge hat jedes seine zwei Seiten, und es kommt<lb/>
darauf an, welche von beiden der Auffassende von seinem Standpunkt und nach<lb/>
seinen Interessen im Auge hat; aber so ist nach der Natur der Menschen der<lb/>
eine mehr geneigt die Lichtseite zu betrachten, während der andere sich am<lb/>
Schatten weidet, indem jenem das Positive, Gelungene, diesem das Negative<lb/>
oder noch Mangelnde zunächst sich aufdrängt. Auch die Nähe und Ferne, die<lb/>
zeitliche wie die räumliche, macht etwas aus. Wenn nun ein mit dem Doppel¬<lb/>
klick des Humors begabter Mann siegreich pessimistisch die Verkehrtheiten und<lb/>
das Elend des Lebens hervorhebt und doch optimistisch an das Gute und Schöne<lb/>
glaubt, sich unter das Banner des Idealismus stellt und es sich zur Lebens¬<lb/>
aufgabe macht, mit scherzenden Spott und zürnendem Ernst seinem Volke die<lb/>
Wahrheit zu sagen, als theilnehmender Beobachter von draußen, wohin ihn<lb/>
die Woge revolutionärer Bewegung verschlagen, so mögen seine Worte uns<lb/>
sowohl zur Orientirung dienen, als wir sie auch berichtigen können. Wider¬<lb/>
spruch und Prüfung allein führen zur Selbsterkenntniß. Johannes Scherr ist<lb/>
ein solcher Mann.  Er pflegt rasch zu sammeln, was er in Zeitschriften ver¬<lb/>
öffentlicht , und in Vor- und Nachworten sich über die Weltlage, vornehmlich<lb/>
über Deutschland zu verbreiten.  So hat er diesmal einige historische Aufsätze,<lb/>
wie über Lucrezia Borgia, über den letzten König von Peru, mit zwei treff¬<lb/>
lichen literarischen Kritiken, über Sealssield und Annette von Droste, und<lb/>
mit den Wanderungen eines Elysionärs zusammengestellt, die allzufrüh ab¬<lb/>
brachen, als in der &#x201E;Gegenwart" eine im Stil von Rabelais erzählte Parabel<lb/>
dem Redacteur Paul Lindau den unfreiwilligen Aufenthalt in einer Zelle am<lb/>
Plötzensee eingetragen.  Das Buch betitelt er &#x201E;Blätter im Winde", und leitet<lb/>
es ein mit einem 99 Seiten langen Sendschreiben, in welchem er sM über<lb/>
die Deutschland gegenwärtig bewegenden Fragen ausspricht. Dazu kommt, daß<lb/>
er seine deutsche Cultur- und Sittengeschichte in der sechsten Auflage bis auf</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Gnnzboten IV. 187S. 41</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0325] Lin deutscher AepubtRaner im Ausland über unsre Zustände. (Blätter im Winde. Von Johannes Scherr. Leipzig bei Günther 1875.) Nach der Natur der Dinge hat jedes seine zwei Seiten, und es kommt darauf an, welche von beiden der Auffassende von seinem Standpunkt und nach seinen Interessen im Auge hat; aber so ist nach der Natur der Menschen der eine mehr geneigt die Lichtseite zu betrachten, während der andere sich am Schatten weidet, indem jenem das Positive, Gelungene, diesem das Negative oder noch Mangelnde zunächst sich aufdrängt. Auch die Nähe und Ferne, die zeitliche wie die räumliche, macht etwas aus. Wenn nun ein mit dem Doppel¬ klick des Humors begabter Mann siegreich pessimistisch die Verkehrtheiten und das Elend des Lebens hervorhebt und doch optimistisch an das Gute und Schöne glaubt, sich unter das Banner des Idealismus stellt und es sich zur Lebens¬ aufgabe macht, mit scherzenden Spott und zürnendem Ernst seinem Volke die Wahrheit zu sagen, als theilnehmender Beobachter von draußen, wohin ihn die Woge revolutionärer Bewegung verschlagen, so mögen seine Worte uns sowohl zur Orientirung dienen, als wir sie auch berichtigen können. Wider¬ spruch und Prüfung allein führen zur Selbsterkenntniß. Johannes Scherr ist ein solcher Mann. Er pflegt rasch zu sammeln, was er in Zeitschriften ver¬ öffentlicht , und in Vor- und Nachworten sich über die Weltlage, vornehmlich über Deutschland zu verbreiten. So hat er diesmal einige historische Aufsätze, wie über Lucrezia Borgia, über den letzten König von Peru, mit zwei treff¬ lichen literarischen Kritiken, über Sealssield und Annette von Droste, und mit den Wanderungen eines Elysionärs zusammengestellt, die allzufrüh ab¬ brachen, als in der „Gegenwart" eine im Stil von Rabelais erzählte Parabel dem Redacteur Paul Lindau den unfreiwilligen Aufenthalt in einer Zelle am Plötzensee eingetragen. Das Buch betitelt er „Blätter im Winde", und leitet es ein mit einem 99 Seiten langen Sendschreiben, in welchem er sM über die Deutschland gegenwärtig bewegenden Fragen ausspricht. Dazu kommt, daß er seine deutsche Cultur- und Sittengeschichte in der sechsten Auflage bis auf Gnnzboten IV. 187S. 41

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/325
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/325>, abgerufen am 22.07.2024.