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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Der erste Lroberungszug der neueren Iranzosen.
1494 -- 1495.
Bon Max Jähns.

In der Einleitung zu seiner "französischen Staats- und Rechtsgeschichte"
sagt Warnkoenig: "Ob man gleich in der Regel Frankreichs neuere Geschichte
mit Franz I. also 1513 beginnen läßt, so wird die Zurückführung ihres
Anfangs auf die Thronbesteigung Charles' VIII. um so weniger verwerflich sein,
als er es war, der zuerst die französische Eroberungspolitik durch
seine italienischen Kriege zur Anwendung brachte." -- In der That: Das
aus dem Schutt der englischen Kriege neu aufgebaute Königthum Frankreichs,
das sich emporrichtete an der nationalen Reaction gegen die Fremdherrschaft,
hatte sich noch unter Charles VII. selbst das wichtigste Organ der Monarchie
geschaffen: ein stehendes Heer, das erste in Europa, die berühmten Ordonnanz-
Compagnien. Unter Louis XI. hatte sich dann die französische Königsgewalt
Mit all den Mitteln, welche sie der italienischen Lokaltyrannis abgelernt, im
Innern festgesetzt; unter Charles VIII. aber sollte sie nun die neugewonnene
Macht auch nach Außen hin zur Geltung bringen und damit jene Bestrebungen
und Kämpfe einleiten, welche in dem Ringen um Italien ihren Mittelpunkt,
w dem Gegensatze zu Spanien und Oesterreich eine stete Nahrung fanden
und welche für die Entwickelung der Staats- und Kriegskunst während der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von ganz unvergleichlichen Interesse sind.

Seltsam erscheint es, daß die Inauguration dieser Epoche durch einen
so unbedeutenden Menschen geschieht, wie eben Charles VIII. war, seltsam
auch, daß die Unternehmung, an welche sich jene großartigen Folgen knüpften,
an und für sich als ein fast thörichtes, schlecht überlegtes und schlecht geleitetes
Abenteuer erscheint! -- Es ist, als sollten jene Geschichtsphilosophen Recht
behalten, die da meinen, daß oft die gewaltigsten Ereignisse, welche das
Antlitz der Welt verändern, Resultate der Unerfahrenheit und der Unfähig-
keit seien. -- Indessen i nicht allein in den Persönlichkeiten und deren
Absichten ruht die treibende Kraft der Geschichte; vielmehr sind auch die
menschlichen Gemeinwesen und ihr historisch gewordener Zu¬
stand Mächte an sich, und das lebendig Emporgewachsene entwickelt Kräfte,


Giciizbi'teil II. I87V. ^l
Der erste Lroberungszug der neueren Iranzosen.
1494 — 1495.
Bon Max Jähns.

In der Einleitung zu seiner „französischen Staats- und Rechtsgeschichte"
sagt Warnkoenig: „Ob man gleich in der Regel Frankreichs neuere Geschichte
mit Franz I. also 1513 beginnen läßt, so wird die Zurückführung ihres
Anfangs auf die Thronbesteigung Charles' VIII. um so weniger verwerflich sein,
als er es war, der zuerst die französische Eroberungspolitik durch
seine italienischen Kriege zur Anwendung brachte." — In der That: Das
aus dem Schutt der englischen Kriege neu aufgebaute Königthum Frankreichs,
das sich emporrichtete an der nationalen Reaction gegen die Fremdherrschaft,
hatte sich noch unter Charles VII. selbst das wichtigste Organ der Monarchie
geschaffen: ein stehendes Heer, das erste in Europa, die berühmten Ordonnanz-
Compagnien. Unter Louis XI. hatte sich dann die französische Königsgewalt
Mit all den Mitteln, welche sie der italienischen Lokaltyrannis abgelernt, im
Innern festgesetzt; unter Charles VIII. aber sollte sie nun die neugewonnene
Macht auch nach Außen hin zur Geltung bringen und damit jene Bestrebungen
und Kämpfe einleiten, welche in dem Ringen um Italien ihren Mittelpunkt,
w dem Gegensatze zu Spanien und Oesterreich eine stete Nahrung fanden
und welche für die Entwickelung der Staats- und Kriegskunst während der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von ganz unvergleichlichen Interesse sind.

Seltsam erscheint es, daß die Inauguration dieser Epoche durch einen
so unbedeutenden Menschen geschieht, wie eben Charles VIII. war, seltsam
auch, daß die Unternehmung, an welche sich jene großartigen Folgen knüpften,
an und für sich als ein fast thörichtes, schlecht überlegtes und schlecht geleitetes
Abenteuer erscheint! — Es ist, als sollten jene Geschichtsphilosophen Recht
behalten, die da meinen, daß oft die gewaltigsten Ereignisse, welche das
Antlitz der Welt verändern, Resultate der Unerfahrenheit und der Unfähig-
keit seien. — Indessen i nicht allein in den Persönlichkeiten und deren
Absichten ruht die treibende Kraft der Geschichte; vielmehr sind auch die
menschlichen Gemeinwesen und ihr historisch gewordener Zu¬
stand Mächte an sich, und das lebendig Emporgewachsene entwickelt Kräfte,


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[0325] Der erste Lroberungszug der neueren Iranzosen. 1494 — 1495. Bon Max Jähns. In der Einleitung zu seiner „französischen Staats- und Rechtsgeschichte" sagt Warnkoenig: „Ob man gleich in der Regel Frankreichs neuere Geschichte mit Franz I. also 1513 beginnen läßt, so wird die Zurückführung ihres Anfangs auf die Thronbesteigung Charles' VIII. um so weniger verwerflich sein, als er es war, der zuerst die französische Eroberungspolitik durch seine italienischen Kriege zur Anwendung brachte." — In der That: Das aus dem Schutt der englischen Kriege neu aufgebaute Königthum Frankreichs, das sich emporrichtete an der nationalen Reaction gegen die Fremdherrschaft, hatte sich noch unter Charles VII. selbst das wichtigste Organ der Monarchie geschaffen: ein stehendes Heer, das erste in Europa, die berühmten Ordonnanz- Compagnien. Unter Louis XI. hatte sich dann die französische Königsgewalt Mit all den Mitteln, welche sie der italienischen Lokaltyrannis abgelernt, im Innern festgesetzt; unter Charles VIII. aber sollte sie nun die neugewonnene Macht auch nach Außen hin zur Geltung bringen und damit jene Bestrebungen und Kämpfe einleiten, welche in dem Ringen um Italien ihren Mittelpunkt, w dem Gegensatze zu Spanien und Oesterreich eine stete Nahrung fanden und welche für die Entwickelung der Staats- und Kriegskunst während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von ganz unvergleichlichen Interesse sind. Seltsam erscheint es, daß die Inauguration dieser Epoche durch einen so unbedeutenden Menschen geschieht, wie eben Charles VIII. war, seltsam auch, daß die Unternehmung, an welche sich jene großartigen Folgen knüpften, an und für sich als ein fast thörichtes, schlecht überlegtes und schlecht geleitetes Abenteuer erscheint! — Es ist, als sollten jene Geschichtsphilosophen Recht behalten, die da meinen, daß oft die gewaltigsten Ereignisse, welche das Antlitz der Welt verändern, Resultate der Unerfahrenheit und der Unfähig- keit seien. — Indessen i nicht allein in den Persönlichkeiten und deren Absichten ruht die treibende Kraft der Geschichte; vielmehr sind auch die menschlichen Gemeinwesen und ihr historisch gewordener Zu¬ stand Mächte an sich, und das lebendig Emporgewachsene entwickelt Kräfte, Giciizbi'teil II. I87V. ^l

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/325>, abgerufen am 05.02.2025.