Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Die AraKel Griechenlands.
Von
C. Bruch.

So lange Menschen diese Erde bevölkern und in ihren Herzen das un¬
austilgbare Sehnen ruht nach Glück, nach vollkommener Befriedigung aller
Bedürfnisse des leiblichen und geistigen Lebens, welche die Gegenwart mit
ihrer Sorge, ihren Kämpfen, ihren unfertigen Ansängen, so oft nicht gewährt,
so lange besteht auch die fragende Hinrichtung des menschlichen Blickes aus
die Zukunft, aus deren Schooß das Zufallen des heiteren, glücklichen Looses
erhofft wird. Was ist der Baum der Erkenntniß des Guten und Bösen im
Paradiesesgarten, von dem die älteste Urkunde des Menschengeschlechtes er¬
zählt, dieser Baum, dessen Früchte das erste Menschenpaar so lieblich und
verlockend anlachten, weil der Genuß derselben klug machen und in gott-
ähnlichen Zustand erheben sollte, was ist er anders, als ein Beweis dafür,
daß schon die Urahnen unseres Geschlechtes sich in der Gegenwart -- und
es war doch eine Gegenwart paradiesischen Glückes -- nicht befriedigt fühlten,
sondern noch geheime Wünsche und Fragen an die Zukunft hatten? Und
dieses Wünschen und Fragen ist geblieben, und wenn auch unter allen
Völkern jenes Bewußtsein lebt, dem Sophokles am Schlüsse seines Ajas so
klaren Ausdruck giebt, indem er den Chor singen läßt:


"Viel schauet der Mensch und erforscht sein Geist;
Doch nimmer, er sah's denn, decket er auf,
Was ruht in dem Schooße der Zukunft!"

>o sucht doch immer wieder die begehrliche Menschenhand den Schleier auf¬
zudecken , der das Zukunftsbild verhüllt und fort und fort mühet sein Geist
sich ab, in das verschlossene Geheimniß einzudringen.

Ist's denn ein völlig undurchdringliches, verschlossenes Geheimniß?
Sinken nicht hier und da die einhüllenden Nebel, daß eine helle, klare Aus¬
sicht in die Ferne sich uns eröffnet? Daß man durch Combination und Be¬
rechnung einen ziemlich wahrscheinlichen, ja fast gewissen Schluß aus der
Gegenwart auf die Zukunft machen kann, daß z. B. ein erfahrener Staats-


Grmzvoten IV. l"74. 21
Die AraKel Griechenlands.
Von
C. Bruch.

So lange Menschen diese Erde bevölkern und in ihren Herzen das un¬
austilgbare Sehnen ruht nach Glück, nach vollkommener Befriedigung aller
Bedürfnisse des leiblichen und geistigen Lebens, welche die Gegenwart mit
ihrer Sorge, ihren Kämpfen, ihren unfertigen Ansängen, so oft nicht gewährt,
so lange besteht auch die fragende Hinrichtung des menschlichen Blickes aus
die Zukunft, aus deren Schooß das Zufallen des heiteren, glücklichen Looses
erhofft wird. Was ist der Baum der Erkenntniß des Guten und Bösen im
Paradiesesgarten, von dem die älteste Urkunde des Menschengeschlechtes er¬
zählt, dieser Baum, dessen Früchte das erste Menschenpaar so lieblich und
verlockend anlachten, weil der Genuß derselben klug machen und in gott-
ähnlichen Zustand erheben sollte, was ist er anders, als ein Beweis dafür,
daß schon die Urahnen unseres Geschlechtes sich in der Gegenwart — und
es war doch eine Gegenwart paradiesischen Glückes — nicht befriedigt fühlten,
sondern noch geheime Wünsche und Fragen an die Zukunft hatten? Und
dieses Wünschen und Fragen ist geblieben, und wenn auch unter allen
Völkern jenes Bewußtsein lebt, dem Sophokles am Schlüsse seines Ajas so
klaren Ausdruck giebt, indem er den Chor singen läßt:


„Viel schauet der Mensch und erforscht sein Geist;
Doch nimmer, er sah's denn, decket er auf,
Was ruht in dem Schooße der Zukunft!"

>o sucht doch immer wieder die begehrliche Menschenhand den Schleier auf¬
zudecken , der das Zukunftsbild verhüllt und fort und fort mühet sein Geist
sich ab, in das verschlossene Geheimniß einzudringen.

Ist's denn ein völlig undurchdringliches, verschlossenes Geheimniß?
Sinken nicht hier und da die einhüllenden Nebel, daß eine helle, klare Aus¬
sicht in die Ferne sich uns eröffnet? Daß man durch Combination und Be¬
rechnung einen ziemlich wahrscheinlichen, ja fast gewissen Schluß aus der
Gegenwart auf die Zukunft machen kann, daß z. B. ein erfahrener Staats-


Grmzvoten IV. l»74. 21
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0165" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132387"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die AraKel Griechenlands.<lb/><note type="byline"> Von<lb/>
C. Bruch.</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_551"> So lange Menschen diese Erde bevölkern und in ihren Herzen das un¬<lb/>
austilgbare Sehnen ruht nach Glück, nach vollkommener Befriedigung aller<lb/>
Bedürfnisse des leiblichen und geistigen Lebens, welche die Gegenwart mit<lb/>
ihrer Sorge, ihren Kämpfen, ihren unfertigen Ansängen, so oft nicht gewährt,<lb/>
so lange besteht auch die fragende Hinrichtung des menschlichen Blickes aus<lb/>
die Zukunft, aus deren Schooß das Zufallen des heiteren, glücklichen Looses<lb/>
erhofft wird. Was ist der Baum der Erkenntniß des Guten und Bösen im<lb/>
Paradiesesgarten, von dem die älteste Urkunde des Menschengeschlechtes er¬<lb/>
zählt, dieser Baum, dessen Früchte das erste Menschenpaar so lieblich und<lb/>
verlockend anlachten, weil der Genuß derselben klug machen und in gott-<lb/>
ähnlichen Zustand erheben sollte, was ist er anders, als ein Beweis dafür,<lb/>
daß schon die Urahnen unseres Geschlechtes sich in der Gegenwart &#x2014; und<lb/>
es war doch eine Gegenwart paradiesischen Glückes &#x2014; nicht befriedigt fühlten,<lb/>
sondern noch geheime Wünsche und Fragen an die Zukunft hatten? Und<lb/>
dieses Wünschen und Fragen ist geblieben, und wenn auch unter allen<lb/>
Völkern jenes Bewußtsein lebt, dem Sophokles am Schlüsse seines Ajas so<lb/>
klaren Ausdruck giebt, indem er den Chor singen läßt:</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_10" type="poem">
              <l> &#x201E;Viel schauet der Mensch und erforscht sein Geist;<lb/>
Doch nimmer, er sah's denn, decket er auf,<lb/>
Was ruht in dem Schooße der Zukunft!"</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_552"> &gt;o sucht doch immer wieder die begehrliche Menschenhand den Schleier auf¬<lb/>
zudecken , der das Zukunftsbild verhüllt und fort und fort mühet sein Geist<lb/>
sich ab, in das verschlossene Geheimniß einzudringen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_553" next="#ID_554"> Ist's denn ein völlig undurchdringliches, verschlossenes Geheimniß?<lb/>
Sinken nicht hier und da die einhüllenden Nebel, daß eine helle, klare Aus¬<lb/>
sicht in die Ferne sich uns eröffnet? Daß man durch Combination und Be¬<lb/>
rechnung einen ziemlich wahrscheinlichen, ja fast gewissen Schluß aus der<lb/>
Gegenwart auf die Zukunft machen kann, daß z. B. ein erfahrener Staats-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grmzvoten IV. l»74. 21</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0165] Die AraKel Griechenlands. Von C. Bruch. So lange Menschen diese Erde bevölkern und in ihren Herzen das un¬ austilgbare Sehnen ruht nach Glück, nach vollkommener Befriedigung aller Bedürfnisse des leiblichen und geistigen Lebens, welche die Gegenwart mit ihrer Sorge, ihren Kämpfen, ihren unfertigen Ansängen, so oft nicht gewährt, so lange besteht auch die fragende Hinrichtung des menschlichen Blickes aus die Zukunft, aus deren Schooß das Zufallen des heiteren, glücklichen Looses erhofft wird. Was ist der Baum der Erkenntniß des Guten und Bösen im Paradiesesgarten, von dem die älteste Urkunde des Menschengeschlechtes er¬ zählt, dieser Baum, dessen Früchte das erste Menschenpaar so lieblich und verlockend anlachten, weil der Genuß derselben klug machen und in gott- ähnlichen Zustand erheben sollte, was ist er anders, als ein Beweis dafür, daß schon die Urahnen unseres Geschlechtes sich in der Gegenwart — und es war doch eine Gegenwart paradiesischen Glückes — nicht befriedigt fühlten, sondern noch geheime Wünsche und Fragen an die Zukunft hatten? Und dieses Wünschen und Fragen ist geblieben, und wenn auch unter allen Völkern jenes Bewußtsein lebt, dem Sophokles am Schlüsse seines Ajas so klaren Ausdruck giebt, indem er den Chor singen läßt: „Viel schauet der Mensch und erforscht sein Geist; Doch nimmer, er sah's denn, decket er auf, Was ruht in dem Schooße der Zukunft!" >o sucht doch immer wieder die begehrliche Menschenhand den Schleier auf¬ zudecken , der das Zukunftsbild verhüllt und fort und fort mühet sein Geist sich ab, in das verschlossene Geheimniß einzudringen. Ist's denn ein völlig undurchdringliches, verschlossenes Geheimniß? Sinken nicht hier und da die einhüllenden Nebel, daß eine helle, klare Aus¬ sicht in die Ferne sich uns eröffnet? Daß man durch Combination und Be¬ rechnung einen ziemlich wahrscheinlichen, ja fast gewissen Schluß aus der Gegenwart auf die Zukunft machen kann, daß z. B. ein erfahrener Staats- Grmzvoten IV. l»74. 21

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/165
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/165>, abgerufen am 28.12.2024.