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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Wiederum also durfte nunmehr der Stadtrichter X. das betreffende
Bündel Acten in meiner Angelegenheit unter den Arm nehmen, sich vor den
Spiegel stellen und mit einer schicklichen Verbeugung sich also anreden:
"Mein lieber Herr Justitiar! Nachdem Sie wiederum das Justitiariat am
Patrimonialgericht über D. übernommen haben, gebe ich mir die Ehre, in
Befolgung des hohen Maubads Großherzogltcher Justiz-Canzlei Ihnen die
Acten in Sachen so und so in Rumeris 1--50 dienstergebenst zu retradiren;"
worauf der Justitiar mit einer angenehmen Gegenverbeugung wohl die
Acten wieder in Empfang genommen haben wird. Denn seit jenem Tage
sind mir nie wieder Schreiben an dieses Patrimonialgericht unerbrochen durch
die Post mit dem Vermerk zurückgeschickt worden: "Das Patrimonialgericht
ist nicht mehr."




Das ehemalige Kurhessen, dessen innere Angelegenheiten infolge besonderer
Umstände noch in den 60er Jahren ein Hauptmoment in der allgemeinen
deutschen Entwickelung bildeten, läßt schon seit geraumer Zeit auffallend wenig
von sich vernehmen, was auf politische Regsamkeit schließen ließe. Es ist
freilich natürlich, daß auf die lange Periode der politischen Aufregung ein
bedeutender Rückschlag eintrat, als 1866 die Quelle langjähriger Mißverhält¬
nisse beseitigt, den materiellen Interessen eine größere Entfaltung ermöglicht
und die politische Lage des Landes durch die Ereignisse auf das demselben
zukommende Niveau zurückgeführt wurde; allein die seitdem in Hessen herr¬
schende politische Stille ist doch gar zu groß. Gerade von einer, wie man
annehmen sollte, politisch so geschulten Bevölkerung hätte sich erwarten lassen,
daß sie an der politischen Arbeit der Gegenwart sich mehr zu betheiligen ge¬
neigt sein und wenigstens dasjenige Maß politischen Eifers entwickeln würde,
welches man billigerweise von allen Theilen des Reichs verlangen kann.
Nichts ist erklärlicher, als daß die Jahrzehnte lang von der kurfürstlichen Re¬
gierung in fast allem Fortschritt gehemmt gewesenen Städte, die kleinen wie
die größeren, unter preußischer Herrschaft das lange Versäumte gleichsam
rapid nachzuholen beflissen waren; aber sehr zu tadeln ist, daß fast alles
öffentliche Interesse in Gemeindeangelegenheiten aufzugehen schien und für all¬
gemeine politische Fragen und die Betheiligung an denselben selbst Kreise
sich abgestumpft erwiesen, von denen man sich dies nicht hätte träumen lassen.

Mit Recht hat sich seit den letzten Reichstagswahlen infolge der bei


Wiederum also durfte nunmehr der Stadtrichter X. das betreffende
Bündel Acten in meiner Angelegenheit unter den Arm nehmen, sich vor den
Spiegel stellen und mit einer schicklichen Verbeugung sich also anreden:
„Mein lieber Herr Justitiar! Nachdem Sie wiederum das Justitiariat am
Patrimonialgericht über D. übernommen haben, gebe ich mir die Ehre, in
Befolgung des hohen Maubads Großherzogltcher Justiz-Canzlei Ihnen die
Acten in Sachen so und so in Rumeris 1—50 dienstergebenst zu retradiren;"
worauf der Justitiar mit einer angenehmen Gegenverbeugung wohl die
Acten wieder in Empfang genommen haben wird. Denn seit jenem Tage
sind mir nie wieder Schreiben an dieses Patrimonialgericht unerbrochen durch
die Post mit dem Vermerk zurückgeschickt worden: „Das Patrimonialgericht
ist nicht mehr."




Das ehemalige Kurhessen, dessen innere Angelegenheiten infolge besonderer
Umstände noch in den 60er Jahren ein Hauptmoment in der allgemeinen
deutschen Entwickelung bildeten, läßt schon seit geraumer Zeit auffallend wenig
von sich vernehmen, was auf politische Regsamkeit schließen ließe. Es ist
freilich natürlich, daß auf die lange Periode der politischen Aufregung ein
bedeutender Rückschlag eintrat, als 1866 die Quelle langjähriger Mißverhält¬
nisse beseitigt, den materiellen Interessen eine größere Entfaltung ermöglicht
und die politische Lage des Landes durch die Ereignisse auf das demselben
zukommende Niveau zurückgeführt wurde; allein die seitdem in Hessen herr¬
schende politische Stille ist doch gar zu groß. Gerade von einer, wie man
annehmen sollte, politisch so geschulten Bevölkerung hätte sich erwarten lassen,
daß sie an der politischen Arbeit der Gegenwart sich mehr zu betheiligen ge¬
neigt sein und wenigstens dasjenige Maß politischen Eifers entwickeln würde,
welches man billigerweise von allen Theilen des Reichs verlangen kann.
Nichts ist erklärlicher, als daß die Jahrzehnte lang von der kurfürstlichen Re¬
gierung in fast allem Fortschritt gehemmt gewesenen Städte, die kleinen wie
die größeren, unter preußischer Herrschaft das lange Versäumte gleichsam
rapid nachzuholen beflissen waren; aber sehr zu tadeln ist, daß fast alles
öffentliche Interesse in Gemeindeangelegenheiten aufzugehen schien und für all¬
gemeine politische Fragen und die Betheiligung an denselben selbst Kreise
sich abgestumpft erwiesen, von denen man sich dies nicht hätte träumen lassen.

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[0483] Wiederum also durfte nunmehr der Stadtrichter X. das betreffende Bündel Acten in meiner Angelegenheit unter den Arm nehmen, sich vor den Spiegel stellen und mit einer schicklichen Verbeugung sich also anreden: „Mein lieber Herr Justitiar! Nachdem Sie wiederum das Justitiariat am Patrimonialgericht über D. übernommen haben, gebe ich mir die Ehre, in Befolgung des hohen Maubads Großherzogltcher Justiz-Canzlei Ihnen die Acten in Sachen so und so in Rumeris 1—50 dienstergebenst zu retradiren;" worauf der Justitiar mit einer angenehmen Gegenverbeugung wohl die Acten wieder in Empfang genommen haben wird. Denn seit jenem Tage sind mir nie wieder Schreiben an dieses Patrimonialgericht unerbrochen durch die Post mit dem Vermerk zurückgeschickt worden: „Das Patrimonialgericht ist nicht mehr." Das ehemalige Kurhessen, dessen innere Angelegenheiten infolge besonderer Umstände noch in den 60er Jahren ein Hauptmoment in der allgemeinen deutschen Entwickelung bildeten, läßt schon seit geraumer Zeit auffallend wenig von sich vernehmen, was auf politische Regsamkeit schließen ließe. Es ist freilich natürlich, daß auf die lange Periode der politischen Aufregung ein bedeutender Rückschlag eintrat, als 1866 die Quelle langjähriger Mißverhält¬ nisse beseitigt, den materiellen Interessen eine größere Entfaltung ermöglicht und die politische Lage des Landes durch die Ereignisse auf das demselben zukommende Niveau zurückgeführt wurde; allein die seitdem in Hessen herr¬ schende politische Stille ist doch gar zu groß. Gerade von einer, wie man annehmen sollte, politisch so geschulten Bevölkerung hätte sich erwarten lassen, daß sie an der politischen Arbeit der Gegenwart sich mehr zu betheiligen ge¬ neigt sein und wenigstens dasjenige Maß politischen Eifers entwickeln würde, welches man billigerweise von allen Theilen des Reichs verlangen kann. Nichts ist erklärlicher, als daß die Jahrzehnte lang von der kurfürstlichen Re¬ gierung in fast allem Fortschritt gehemmt gewesenen Städte, die kleinen wie die größeren, unter preußischer Herrschaft das lange Versäumte gleichsam rapid nachzuholen beflissen waren; aber sehr zu tadeln ist, daß fast alles öffentliche Interesse in Gemeindeangelegenheiten aufzugehen schien und für all¬ gemeine politische Fragen und die Betheiligung an denselben selbst Kreise sich abgestumpft erwiesen, von denen man sich dies nicht hätte träumen lassen. Mit Recht hat sich seit den letzten Reichstagswahlen infolge der bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/483>, abgerufen am 22.07.2024.