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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Lin Jesuch auf den Sandwichsinseln
von
Mark Twain.
II.

An einem hellen Morgen hoben sich die Inseln in Sicht, niedriges Land
auf einsamer See, und alle Welt kletterte auf das Oberdeck, um sie zu sehen.
Nach zweitausend Meilen Wasserwüste war der Anblick ein recht willkommener.
Als wir uns näherten, tauchte das mächtige Vorgebirge von Diamond Head
aus dem Ocean auf. Seine zackige Vorderwand war weicher und runder in der
dunstigen Ferne. Bald nachher entschleierten sich die Einzelheiten des Lan¬
des: zuerst die Linie des Strandes, dann die federigen Kokosnußpalmen der
Tropen, dann Hütten der Eingeborenen, zuletzt die weiße Stadt Honolulu, die
zehn bis fünfzehntausend Einwohner enthalten soll, ausgebreitet über eine
völlig flache Ebene, mit Straßen von zwanzig bis dreißig Fuß Breite, solid
und eben wie eine Hausdiele, einige so gerade wie ein Lineal, andere so ge¬
wunden wie ein Korkzieher.

Je weiter ich durch die Stadt wanderte, desto besser gefiel sie mir. Je¬
der Schritt enthüllte mir neue Contraste und erschloß Dinge, an die ich nicht
gewöhnt war. Statt der mächtigen, rothfarbnen, braunen Häuserfronten San
Franciscos sah ich Wohnungen gebaut von Stroh, Luftziegeln und einem
rahmfarbigen Gemisch von Kieseln, Muscheln und Korallen, welches in läng¬
lich runde Blöcke geschnitten und mit Cement verbunden wird, desgleichen eine
große Anzahl sauberer, weißer Hütten mit grünen Fensterläden. Statt der
Vorderhöse, welche die Größe von Billardtafeln haben und mit steifen Eisen¬
gittern umzäunt sind, sah ich diese Heimstätten von geräumigen Höfen um¬
geben, die dicht mit grünem Grase bekleidet und von hohen Bäumen be¬
schattet waren, durch deren verwachsenes Laub kaum die Sonne dringen konnte.
An der Stelle des herkömmlichen Geraniums, der Catia-Lilie u. d., die in
Staub und allgemeiner Kraftlosigkeit hinsiechen, sah ich üppige Bänke und
Dickichte von Blumen, frisch wie eine Wiese nach einem Regen und glühend
in den reichsten Farben. Statt der kläglichen Jammergestalten der "Willows"
des Spaziergangs von San Francisco, begegnete ich riesenstämmigen, weit¬
hin sich ausbreitenden Waldbäumen mit seltsamen Namen und noch seltsamerem
Aussehen -- Bäume, die einen Schatten wie eine Gewitterwolke warfen und
im Stande waren, allein zu stehen, ohne an einen grün angestrichenen Pfahl
angebunden zu sein. Statt der Goldfische, die in Glaskugeln herumschnip¬
peln und infolge der vergrößernden oder verkleinernden Eigenschaften ihrer


Lin Jesuch auf den Sandwichsinseln
von
Mark Twain.
II.

An einem hellen Morgen hoben sich die Inseln in Sicht, niedriges Land
auf einsamer See, und alle Welt kletterte auf das Oberdeck, um sie zu sehen.
Nach zweitausend Meilen Wasserwüste war der Anblick ein recht willkommener.
Als wir uns näherten, tauchte das mächtige Vorgebirge von Diamond Head
aus dem Ocean auf. Seine zackige Vorderwand war weicher und runder in der
dunstigen Ferne. Bald nachher entschleierten sich die Einzelheiten des Lan¬
des: zuerst die Linie des Strandes, dann die federigen Kokosnußpalmen der
Tropen, dann Hütten der Eingeborenen, zuletzt die weiße Stadt Honolulu, die
zehn bis fünfzehntausend Einwohner enthalten soll, ausgebreitet über eine
völlig flache Ebene, mit Straßen von zwanzig bis dreißig Fuß Breite, solid
und eben wie eine Hausdiele, einige so gerade wie ein Lineal, andere so ge¬
wunden wie ein Korkzieher.

Je weiter ich durch die Stadt wanderte, desto besser gefiel sie mir. Je¬
der Schritt enthüllte mir neue Contraste und erschloß Dinge, an die ich nicht
gewöhnt war. Statt der mächtigen, rothfarbnen, braunen Häuserfronten San
Franciscos sah ich Wohnungen gebaut von Stroh, Luftziegeln und einem
rahmfarbigen Gemisch von Kieseln, Muscheln und Korallen, welches in läng¬
lich runde Blöcke geschnitten und mit Cement verbunden wird, desgleichen eine
große Anzahl sauberer, weißer Hütten mit grünen Fensterläden. Statt der
Vorderhöse, welche die Größe von Billardtafeln haben und mit steifen Eisen¬
gittern umzäunt sind, sah ich diese Heimstätten von geräumigen Höfen um¬
geben, die dicht mit grünem Grase bekleidet und von hohen Bäumen be¬
schattet waren, durch deren verwachsenes Laub kaum die Sonne dringen konnte.
An der Stelle des herkömmlichen Geraniums, der Catia-Lilie u. d., die in
Staub und allgemeiner Kraftlosigkeit hinsiechen, sah ich üppige Bänke und
Dickichte von Blumen, frisch wie eine Wiese nach einem Regen und glühend
in den reichsten Farben. Statt der kläglichen Jammergestalten der „Willows"
des Spaziergangs von San Francisco, begegnete ich riesenstämmigen, weit¬
hin sich ausbreitenden Waldbäumen mit seltsamen Namen und noch seltsamerem
Aussehen — Bäume, die einen Schatten wie eine Gewitterwolke warfen und
im Stande waren, allein zu stehen, ohne an einen grün angestrichenen Pfahl
angebunden zu sein. Statt der Goldfische, die in Glaskugeln herumschnip¬
peln und infolge der vergrößernden oder verkleinernden Eigenschaften ihrer


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[0064] Lin Jesuch auf den Sandwichsinseln von Mark Twain. II. An einem hellen Morgen hoben sich die Inseln in Sicht, niedriges Land auf einsamer See, und alle Welt kletterte auf das Oberdeck, um sie zu sehen. Nach zweitausend Meilen Wasserwüste war der Anblick ein recht willkommener. Als wir uns näherten, tauchte das mächtige Vorgebirge von Diamond Head aus dem Ocean auf. Seine zackige Vorderwand war weicher und runder in der dunstigen Ferne. Bald nachher entschleierten sich die Einzelheiten des Lan¬ des: zuerst die Linie des Strandes, dann die federigen Kokosnußpalmen der Tropen, dann Hütten der Eingeborenen, zuletzt die weiße Stadt Honolulu, die zehn bis fünfzehntausend Einwohner enthalten soll, ausgebreitet über eine völlig flache Ebene, mit Straßen von zwanzig bis dreißig Fuß Breite, solid und eben wie eine Hausdiele, einige so gerade wie ein Lineal, andere so ge¬ wunden wie ein Korkzieher. Je weiter ich durch die Stadt wanderte, desto besser gefiel sie mir. Je¬ der Schritt enthüllte mir neue Contraste und erschloß Dinge, an die ich nicht gewöhnt war. Statt der mächtigen, rothfarbnen, braunen Häuserfronten San Franciscos sah ich Wohnungen gebaut von Stroh, Luftziegeln und einem rahmfarbigen Gemisch von Kieseln, Muscheln und Korallen, welches in läng¬ lich runde Blöcke geschnitten und mit Cement verbunden wird, desgleichen eine große Anzahl sauberer, weißer Hütten mit grünen Fensterläden. Statt der Vorderhöse, welche die Größe von Billardtafeln haben und mit steifen Eisen¬ gittern umzäunt sind, sah ich diese Heimstätten von geräumigen Höfen um¬ geben, die dicht mit grünem Grase bekleidet und von hohen Bäumen be¬ schattet waren, durch deren verwachsenes Laub kaum die Sonne dringen konnte. An der Stelle des herkömmlichen Geraniums, der Catia-Lilie u. d., die in Staub und allgemeiner Kraftlosigkeit hinsiechen, sah ich üppige Bänke und Dickichte von Blumen, frisch wie eine Wiese nach einem Regen und glühend in den reichsten Farben. Statt der kläglichen Jammergestalten der „Willows" des Spaziergangs von San Francisco, begegnete ich riesenstämmigen, weit¬ hin sich ausbreitenden Waldbäumen mit seltsamen Namen und noch seltsamerem Aussehen — Bäume, die einen Schatten wie eine Gewitterwolke warfen und im Stande waren, allein zu stehen, ohne an einen grün angestrichenen Pfahl angebunden zu sein. Statt der Goldfische, die in Glaskugeln herumschnip¬ peln und infolge der vergrößernden oder verkleinernden Eigenschaften ihrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/64>, abgerufen am 05.02.2025.