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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Die scheinbare "Entzweiung" der Geschworenen und Richter von der die
Anhänger des Schöffengerichts so gern reden, ist also nichts Anderes als
eine organische Gliederung. Daß diese der oberflächlichen Betrachtung und
Behandlung weit größere Schwierigkeiten entgegengesetzt, als ein rein atomi-
stisch, anorganisch zusammengesetztes Gericht, darf nicht Wunder nehmen.
Dafür aber ist sie auch in ganz andrer Weise -- ohne daß die einzelnen Ele¬
mente Gefahr laufen, einander zu zerreiben -- entwicklungsfähig: und dies
gerade zeigt die Geschichte des Geschworenengerichts, von welcher eine kurze
Skizze zu geben in einem folgenden Artikel gestattet sein mag.


L. v. Bar.


Iranzöstsche Zustände. *)

Seit unserem Siege über Frankreich gilt es für gut patriotisch, über die
allzugroße Beachtung zu klagen, welche der Deutsche bisher den Vorgängen
im Nachbarlande gewidmet habe. Man thut, als wären wir in den franzö¬
sischen Dingen fast besser bewandert, als in den heimischen. Unseres Erach-
tens ist diese Selbstanklage ebensowenig gerechtfertigt, wie das Hohngelächter,
welches durch die deutsche Presse zu gehen pflegt, so oft ein Pariser Blatt
sich in der Beurtheilung deutscher Politik, deutscher Personalverhältnisse, deut¬
scher Geographie einen Schnitzer hat zu Schulden kommen lassen. Auch aus
deutschen Zeitungen -- und nicht aus den schlechtesten -- kann man über
französische Ereignisse und Zustände ab und zu ganz haarsträubende Beleh¬
rungen schöpfen; wieviel verzeihlicher sind da nicht die Irrthümer des Fran¬
zosen, dessen absolut centralistische Staatsanschauung sich in der "reichen Fülle
staatlicher Individualitäten", deren wir uns noch immer erfreuen, nun ein¬
mal nicht zurechtfinden kann! Nicht zu bestreikn ist freilich, daß unsere Ta¬
gesblätter nach wie vor dem Kriege der Rubrik "Frankreich" einen weit grö¬
ßeren Raum widmen, als es umgekehrt der Fall ist. Was Wunder auch?
Der deutsche Zeitungsleser ist keineswegs so puritanisch gesonnen, daß er in
seinem Blatte neben der Belehrung nicht auch eine gute Portion Unterhal¬
tung suchen sollte, und die Franzosen nehmen leider nach wie vor dem Kriege



") HiNebrand, Frankreich und die Franzosen in der zweiten Hälfte des
1v. Jahrhunderts. Berlin. R.Oppenheim. I87Z.

Die scheinbare „Entzweiung" der Geschworenen und Richter von der die
Anhänger des Schöffengerichts so gern reden, ist also nichts Anderes als
eine organische Gliederung. Daß diese der oberflächlichen Betrachtung und
Behandlung weit größere Schwierigkeiten entgegengesetzt, als ein rein atomi-
stisch, anorganisch zusammengesetztes Gericht, darf nicht Wunder nehmen.
Dafür aber ist sie auch in ganz andrer Weise — ohne daß die einzelnen Ele¬
mente Gefahr laufen, einander zu zerreiben — entwicklungsfähig: und dies
gerade zeigt die Geschichte des Geschworenengerichts, von welcher eine kurze
Skizze zu geben in einem folgenden Artikel gestattet sein mag.


L. v. Bar.


Iranzöstsche Zustände. *)

Seit unserem Siege über Frankreich gilt es für gut patriotisch, über die
allzugroße Beachtung zu klagen, welche der Deutsche bisher den Vorgängen
im Nachbarlande gewidmet habe. Man thut, als wären wir in den franzö¬
sischen Dingen fast besser bewandert, als in den heimischen. Unseres Erach-
tens ist diese Selbstanklage ebensowenig gerechtfertigt, wie das Hohngelächter,
welches durch die deutsche Presse zu gehen pflegt, so oft ein Pariser Blatt
sich in der Beurtheilung deutscher Politik, deutscher Personalverhältnisse, deut¬
scher Geographie einen Schnitzer hat zu Schulden kommen lassen. Auch aus
deutschen Zeitungen — und nicht aus den schlechtesten — kann man über
französische Ereignisse und Zustände ab und zu ganz haarsträubende Beleh¬
rungen schöpfen; wieviel verzeihlicher sind da nicht die Irrthümer des Fran¬
zosen, dessen absolut centralistische Staatsanschauung sich in der „reichen Fülle
staatlicher Individualitäten", deren wir uns noch immer erfreuen, nun ein¬
mal nicht zurechtfinden kann! Nicht zu bestreikn ist freilich, daß unsere Ta¬
gesblätter nach wie vor dem Kriege der Rubrik „Frankreich" einen weit grö¬
ßeren Raum widmen, als es umgekehrt der Fall ist. Was Wunder auch?
Der deutsche Zeitungsleser ist keineswegs so puritanisch gesonnen, daß er in
seinem Blatte neben der Belehrung nicht auch eine gute Portion Unterhal¬
tung suchen sollte, und die Franzosen nehmen leider nach wie vor dem Kriege



") HiNebrand, Frankreich und die Franzosen in der zweiten Hälfte des
1v. Jahrhunderts. Berlin. R.Oppenheim. I87Z.
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[0056] Die scheinbare „Entzweiung" der Geschworenen und Richter von der die Anhänger des Schöffengerichts so gern reden, ist also nichts Anderes als eine organische Gliederung. Daß diese der oberflächlichen Betrachtung und Behandlung weit größere Schwierigkeiten entgegengesetzt, als ein rein atomi- stisch, anorganisch zusammengesetztes Gericht, darf nicht Wunder nehmen. Dafür aber ist sie auch in ganz andrer Weise — ohne daß die einzelnen Ele¬ mente Gefahr laufen, einander zu zerreiben — entwicklungsfähig: und dies gerade zeigt die Geschichte des Geschworenengerichts, von welcher eine kurze Skizze zu geben in einem folgenden Artikel gestattet sein mag. L. v. Bar. Iranzöstsche Zustände. *) Seit unserem Siege über Frankreich gilt es für gut patriotisch, über die allzugroße Beachtung zu klagen, welche der Deutsche bisher den Vorgängen im Nachbarlande gewidmet habe. Man thut, als wären wir in den franzö¬ sischen Dingen fast besser bewandert, als in den heimischen. Unseres Erach- tens ist diese Selbstanklage ebensowenig gerechtfertigt, wie das Hohngelächter, welches durch die deutsche Presse zu gehen pflegt, so oft ein Pariser Blatt sich in der Beurtheilung deutscher Politik, deutscher Personalverhältnisse, deut¬ scher Geographie einen Schnitzer hat zu Schulden kommen lassen. Auch aus deutschen Zeitungen — und nicht aus den schlechtesten — kann man über französische Ereignisse und Zustände ab und zu ganz haarsträubende Beleh¬ rungen schöpfen; wieviel verzeihlicher sind da nicht die Irrthümer des Fran¬ zosen, dessen absolut centralistische Staatsanschauung sich in der „reichen Fülle staatlicher Individualitäten", deren wir uns noch immer erfreuen, nun ein¬ mal nicht zurechtfinden kann! Nicht zu bestreikn ist freilich, daß unsere Ta¬ gesblätter nach wie vor dem Kriege der Rubrik „Frankreich" einen weit grö¬ ßeren Raum widmen, als es umgekehrt der Fall ist. Was Wunder auch? Der deutsche Zeitungsleser ist keineswegs so puritanisch gesonnen, daß er in seinem Blatte neben der Belehrung nicht auch eine gute Portion Unterhal¬ tung suchen sollte, und die Franzosen nehmen leider nach wie vor dem Kriege ") HiNebrand, Frankreich und die Franzosen in der zweiten Hälfte des 1v. Jahrhunderts. Berlin. R.Oppenheim. I87Z.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/56>, abgerufen am 05.02.2025.