Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.Zur Geschichte der Schrift und des Schristthums. Im Genusse eines hochausgebildeten Schriftthums, welches recht eigentlich Jahrhunderte mögen vergangen sein, ehe aus der Dämmerung der Bar¬ Die erste Form, einen Gedanken in bestimmtem Ausdruck bleibend zu er¬ Grmzvotm 1873. III. 46
Zur Geschichte der Schrift und des Schristthums. Im Genusse eines hochausgebildeten Schriftthums, welches recht eigentlich Jahrhunderte mögen vergangen sein, ehe aus der Dämmerung der Bar¬ Die erste Form, einen Gedanken in bestimmtem Ausdruck bleibend zu er¬ Grmzvotm 1873. III. 46
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Zur Geschichte der Schrift und des Schristthums.
Im Genusse eines hochausgebildeten Schriftthums, welches recht eigentlich
der Träger der menschlichen Kulturerrungenschaften ist, sind wir kaum im
Stande, uns in den Zustand der Schriftlosigkeit hineinzudenken, der doch bei
den ältesten Völkern der Erde geraume Zeit hindurch vorhanden gewesen ist.
Vor Erfindung des ältesten Schriftzeichens stand der Mensch ohne Zweifel
insofern dem Thiere nahe, als er lediglich unter dem Banne des Augen¬
blicks leben mußte, als es ihm unmöglich war, die verrinnenden Eindrücke
der Vergangenheit festzuhalten und die Produkte geistiger Thätigkeit der kom¬
menden Zeit zu überliefern. Wer vermag zu sagen, welchen Zeitraum dieser
Zustand der „Schriftlosigkeit" umfaßt hat?
Jahrhunderte mögen vergangen sein, ehe aus der Dämmerung der Bar¬
barei die Anfänge der Schriftentwicklung hervortauchten. Wenn nirgend sonst
so hat in dieser Hinsicht der Mensch lange Zeit gebraucht, sich aus der Nacht
zum Licht emporzuheben.
Die erste Form, einen Gedanken in bestimmtem Ausdruck bleibend zu er¬
halten, scheint der Gesang gewesen zu sein. Die rhythmische Fassung prägte
sich am leichtesten dem Gedächtnisse ein; die unabänderliche Form trug den
Inhalt und Wortlaut zu späteren Geschlechtern hinüber. Die Aegyptischen und
Indischen Priester mußten deshalb nach altem Herkommen die Lieder ihrer
Religion im Gedächtnisse haben; die Agathhrsen in Südosteuropa, die Turde-
taner am Guadalquivir sangen einst ihre Gesetze, um sie nicht aus der Er¬
innerung zu verlieren. Manche schriftlose Völker von kräftigem Charakter
schufen Heldenlieder, um die Thaten der Altvordern im Gesänge festzuhalten,
so die alten Deutschen, deren Geschichte, wie Tacitus sagt, einzig in ihren
Liedern aufbewahrt war. Bon der erhaltenden Macht des Gesanges zeugt
die Ueberlieferung der Homerischen Epopöen, die, ohne aufgeschrieben zu sein,
Jahrhunderte lang im Gedächtnisse fortlebten, und auch in unserer Zeit noch
lernten die Europäer auf Hawai Recitative kennen, welche die Reihe der al¬
ten Königsgeschlechter dieser Insel auf die Nachwelt gebracht haben. Dennoch
war die Ueberlieferung in rhythmischer Form immer nur ein Nothbehelf, da
das gesprochene Wort mannigfacher Willkür und zahllosen Zufälligkeiten preis-
Grmzvotm 1873. III. 46
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