Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Indem die Prophetin sich zuletzt an die Einzelnen wendete, sagte sie jedem
ermunternde Worte, die aber immer einen mystischen Klang hatten. Dem Einen
rief sie zu: "Du sollst gleich dem Propheten Habakuk Gast in allen Städten
sein. Du bist weiß wie eine Taube, und du sollst die weißen Tauben füttern."
Vermuthlich war damit gemeint, daß der Betreffende als "Wanderer" umher¬
ziehen und den entfernten Brüdern predigen solle. Häufig werden solche
'Reisen angetreten, die zu dem Charakter des russischen Landvolkes sehr gut
passen, und die reichen Mitglieder der Secte machen sich's zur Ehre, solchen
Wanderpropheten eine bequeme Herberge zu geben.

Zu einem Andern, der grade für die Verschneidung vorbereitet wurde, die
gewöhnlich am Schlüsse solcher Gottesdienste vorgenommen wird, sagte die
Babanin: "O vielgeliebte Seele, du sollst vom Himmel Zeichen erhalten, über
welche sich das ganze Haus Israel verwundern wird. Der himmlische Vater
wird dir die Krone mit sieben Zinken reichen. Dazu bedarf es nichts weiter,
als daß du dein Blut für Christum vergießest."

Die Versammlung hörte dieses wüste Kauderwelsch wie eine von Gott
eingegebene That tiefergriffen an. Viele schluchzten laut vor Rührung und
vergossen Thränen.

Wir sehen, die Sonne des neunzehnten Jahrhunderts bescheint noch keines¬
wegs alle Winkel der Erde. Aber diese slawischen Secten sind doch wilder
und unheimlicher als alles, was die romanische und germanische Welt in dieser
Richtung heutzutage noch aufweist. Wir werden demnächst ein Seitenstück
zu den Skopzen in einer Schilderung der amerikanischen Shaker geben, die
ebenfalls glauben, daß die Wiederkunft Christi im vorigen Jahrhundert er¬
folgt und das tausendjährige Reich angebrochen ist, die ebenfalls den geschlecht¬
lichen Verkehr für Sünde halten und Gott ebenfalls durch Tanz verehren.
Aber das Bild wird doch ein ganz anderes, freundlicheres und fried¬
--0 -- licheres sein.




Wie ich Kvingstone auffand.

(Schluß).

Nachdem Stanley einen Monat unterwegs war, erreichte er Simbamwenni,
die "Löwenstadt", in dem fruchtbaren und dicht bevölkerten Thale Ungercngeri.
Hier mußte tüchtig Wegsteuer in Gestalt von Baumwollstoff und dem afrika¬
nischen Klima ein Tribut durch einen heftigen Fieberanfall gezahlt werden.
Das Wetter war schrecklich -- es war die Regenzeit und die noch übrigen


Indem die Prophetin sich zuletzt an die Einzelnen wendete, sagte sie jedem
ermunternde Worte, die aber immer einen mystischen Klang hatten. Dem Einen
rief sie zu: „Du sollst gleich dem Propheten Habakuk Gast in allen Städten
sein. Du bist weiß wie eine Taube, und du sollst die weißen Tauben füttern."
Vermuthlich war damit gemeint, daß der Betreffende als „Wanderer" umher¬
ziehen und den entfernten Brüdern predigen solle. Häufig werden solche
'Reisen angetreten, die zu dem Charakter des russischen Landvolkes sehr gut
passen, und die reichen Mitglieder der Secte machen sich's zur Ehre, solchen
Wanderpropheten eine bequeme Herberge zu geben.

Zu einem Andern, der grade für die Verschneidung vorbereitet wurde, die
gewöhnlich am Schlüsse solcher Gottesdienste vorgenommen wird, sagte die
Babanin: „O vielgeliebte Seele, du sollst vom Himmel Zeichen erhalten, über
welche sich das ganze Haus Israel verwundern wird. Der himmlische Vater
wird dir die Krone mit sieben Zinken reichen. Dazu bedarf es nichts weiter,
als daß du dein Blut für Christum vergießest."

Die Versammlung hörte dieses wüste Kauderwelsch wie eine von Gott
eingegebene That tiefergriffen an. Viele schluchzten laut vor Rührung und
vergossen Thränen.

Wir sehen, die Sonne des neunzehnten Jahrhunderts bescheint noch keines¬
wegs alle Winkel der Erde. Aber diese slawischen Secten sind doch wilder
und unheimlicher als alles, was die romanische und germanische Welt in dieser
Richtung heutzutage noch aufweist. Wir werden demnächst ein Seitenstück
zu den Skopzen in einer Schilderung der amerikanischen Shaker geben, die
ebenfalls glauben, daß die Wiederkunft Christi im vorigen Jahrhundert er¬
folgt und das tausendjährige Reich angebrochen ist, die ebenfalls den geschlecht¬
lichen Verkehr für Sünde halten und Gott ebenfalls durch Tanz verehren.
Aber das Bild wird doch ein ganz anderes, freundlicheres und fried¬
—0 — licheres sein.




Wie ich Kvingstone auffand.

(Schluß).

Nachdem Stanley einen Monat unterwegs war, erreichte er Simbamwenni,
die „Löwenstadt", in dem fruchtbaren und dicht bevölkerten Thale Ungercngeri.
Hier mußte tüchtig Wegsteuer in Gestalt von Baumwollstoff und dem afrika¬
nischen Klima ein Tribut durch einen heftigen Fieberanfall gezahlt werden.
Das Wetter war schrecklich — es war die Regenzeit und die noch übrigen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0504" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128958"/>
          <p xml:id="ID_1644"> Indem die Prophetin sich zuletzt an die Einzelnen wendete, sagte sie jedem<lb/>
ermunternde Worte, die aber immer einen mystischen Klang hatten. Dem Einen<lb/>
rief sie zu: &#x201E;Du sollst gleich dem Propheten Habakuk Gast in allen Städten<lb/>
sein. Du bist weiß wie eine Taube, und du sollst die weißen Tauben füttern."<lb/>
Vermuthlich war damit gemeint, daß der Betreffende als &#x201E;Wanderer" umher¬<lb/>
ziehen und den entfernten Brüdern predigen solle. Häufig werden solche<lb/>
'Reisen angetreten, die zu dem Charakter des russischen Landvolkes sehr gut<lb/>
passen, und die reichen Mitglieder der Secte machen sich's zur Ehre, solchen<lb/>
Wanderpropheten eine bequeme Herberge zu geben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1645"> Zu einem Andern, der grade für die Verschneidung vorbereitet wurde, die<lb/>
gewöhnlich am Schlüsse solcher Gottesdienste vorgenommen wird, sagte die<lb/>
Babanin: &#x201E;O vielgeliebte Seele, du sollst vom Himmel Zeichen erhalten, über<lb/>
welche sich das ganze Haus Israel verwundern wird. Der himmlische Vater<lb/>
wird dir die Krone mit sieben Zinken reichen. Dazu bedarf es nichts weiter,<lb/>
als daß du dein Blut für Christum vergießest."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1646"> Die Versammlung hörte dieses wüste Kauderwelsch wie eine von Gott<lb/>
eingegebene That tiefergriffen an. Viele schluchzten laut vor Rührung und<lb/>
vergossen Thränen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1647"> Wir sehen, die Sonne des neunzehnten Jahrhunderts bescheint noch keines¬<lb/>
wegs alle Winkel der Erde. Aber diese slawischen Secten sind doch wilder<lb/>
und unheimlicher als alles, was die romanische und germanische Welt in dieser<lb/>
Richtung heutzutage noch aufweist. Wir werden demnächst ein Seitenstück<lb/>
zu den Skopzen in einer Schilderung der amerikanischen Shaker geben, die<lb/>
ebenfalls glauben, daß die Wiederkunft Christi im vorigen Jahrhundert er¬<lb/>
folgt und das tausendjährige Reich angebrochen ist, die ebenfalls den geschlecht¬<lb/>
lichen Verkehr für Sünde halten und Gott ebenfalls durch Tanz verehren.<lb/>
Aber das Bild wird doch ein ganz anderes, freundlicheres und fried¬<lb/><note type="byline"> &#x2014;0 &#x2014;</note> licheres sein. </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Wie ich Kvingstone auffand.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1648"> (Schluß).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1649" next="#ID_1650"> Nachdem Stanley einen Monat unterwegs war, erreichte er Simbamwenni,<lb/>
die &#x201E;Löwenstadt", in dem fruchtbaren und dicht bevölkerten Thale Ungercngeri.<lb/>
Hier mußte tüchtig Wegsteuer in Gestalt von Baumwollstoff und dem afrika¬<lb/>
nischen Klima ein Tribut durch einen heftigen Fieberanfall gezahlt werden.<lb/>
Das Wetter war schrecklich &#x2014; es war die Regenzeit und die noch übrigen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0504] Indem die Prophetin sich zuletzt an die Einzelnen wendete, sagte sie jedem ermunternde Worte, die aber immer einen mystischen Klang hatten. Dem Einen rief sie zu: „Du sollst gleich dem Propheten Habakuk Gast in allen Städten sein. Du bist weiß wie eine Taube, und du sollst die weißen Tauben füttern." Vermuthlich war damit gemeint, daß der Betreffende als „Wanderer" umher¬ ziehen und den entfernten Brüdern predigen solle. Häufig werden solche 'Reisen angetreten, die zu dem Charakter des russischen Landvolkes sehr gut passen, und die reichen Mitglieder der Secte machen sich's zur Ehre, solchen Wanderpropheten eine bequeme Herberge zu geben. Zu einem Andern, der grade für die Verschneidung vorbereitet wurde, die gewöhnlich am Schlüsse solcher Gottesdienste vorgenommen wird, sagte die Babanin: „O vielgeliebte Seele, du sollst vom Himmel Zeichen erhalten, über welche sich das ganze Haus Israel verwundern wird. Der himmlische Vater wird dir die Krone mit sieben Zinken reichen. Dazu bedarf es nichts weiter, als daß du dein Blut für Christum vergießest." Die Versammlung hörte dieses wüste Kauderwelsch wie eine von Gott eingegebene That tiefergriffen an. Viele schluchzten laut vor Rührung und vergossen Thränen. Wir sehen, die Sonne des neunzehnten Jahrhunderts bescheint noch keines¬ wegs alle Winkel der Erde. Aber diese slawischen Secten sind doch wilder und unheimlicher als alles, was die romanische und germanische Welt in dieser Richtung heutzutage noch aufweist. Wir werden demnächst ein Seitenstück zu den Skopzen in einer Schilderung der amerikanischen Shaker geben, die ebenfalls glauben, daß die Wiederkunft Christi im vorigen Jahrhundert er¬ folgt und das tausendjährige Reich angebrochen ist, die ebenfalls den geschlecht¬ lichen Verkehr für Sünde halten und Gott ebenfalls durch Tanz verehren. Aber das Bild wird doch ein ganz anderes, freundlicheres und fried¬ —0 — licheres sein. Wie ich Kvingstone auffand. (Schluß). Nachdem Stanley einen Monat unterwegs war, erreichte er Simbamwenni, die „Löwenstadt", in dem fruchtbaren und dicht bevölkerten Thale Ungercngeri. Hier mußte tüchtig Wegsteuer in Gestalt von Baumwollstoff und dem afrika¬ nischen Klima ein Tribut durch einen heftigen Fieberanfall gezahlt werden. Das Wetter war schrecklich — es war die Regenzeit und die noch übrigen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/504
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/504>, abgerufen am 22.07.2024.