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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Nach längerer Unterbrechung erhalten Sie wieder einen Bericht aus
Schwaben. Die Zeiten sind vorbei, wo das politische Leben unseres Klein¬
staats noch die Aufmerksamkeit der Politiker in weiteren Kreisen auf sich zog,
und eine ungewohnte Ruhe, um nicht zu sagen Erschlaffung, hat in allen
Zweigen des öffentlichen Lebens Platz gegriffen. Wohl ist unsere Stände¬
kammer seit einigen Tagen zusammengetreten, um über die sehr praktischen
Fragen einer gründlichen Reform des Steuerwesens und einer weitern Aus¬
dehnung des Staatseisenbahnbaues schlüssig zu werden; aber man folgt ihren
Verhandlungen nur mit geringem Interesse: es fehlt überall an der Initiative
zu selbständigem Schaffen, zu principiellen Neugestaltungen auch auf dem
Boden der provinciellen Rechtssphäre, man fühlt selbst hier, nicht blos auf
dem Gebiete der hohen Politik, daß die Geschicke unseres Staats nicht mehr
in Stuttgart sondern in Berlin bestimmt werden.

Die deutsche Partei hat in den Commissionswahlen wie bei den Wahlen
zur Vieepräsidentenstelle ihre Candidaten mit großer Majorität durchgesetzt,
und Hölder, ihr bisheriger "Führer" ist so eben durch königl. Decret zum Vice-
Präsidenten der Kammer ernannt worden. Man sieht hieraus, daß das
Ministerium im gegenwärtigen Augenblicke eifrig bemüht ist, der deutschen
Partei die Hand zu bieten: es hat seine Stimmen in der Kammer ange-
wiesen, so weit es nur immer angeht, mit den nationalen einig zu gehen;
so daß es den Anschein haben könnte, als ob letztere gegenüber den etlichen
20 Stimmen der vereinigten ultramontanen und Volkspartei über den ganzen
Rest von 60--70 Stimmen gebieten und doch wäre dieß eine große Täuschung.
Ueberhaupt ist -- von der ultramontanen Partei abgesehen -- zur Zeit das
ganze bisherige Parteiwesen in Württemberg in sichtlicher Zersetzung begriffen.
Die Volkspartei wird thatsächlich nur noch durch das Interesse einiger nord¬
deutschen Literaten zusammengehalten: und die Ueberzeugung, daß auf der
bisherigen Bahn keine politischen Erfolge, namentlich keine parlamentarischen
Lorbeeren mehr zu erringen sind, ja nicht einmal mehr eine Stelle im Stutt¬
garter Gemeinderath zu erzielen ist, macht sich immer mehr geltend. Fast
möchte man glauben, diese Partei habe bei der neulichen Abgeordnetenwahl
für die Stadt Stuttgart den letzten Versuch gemacht, nochmals in die Action
zu treten, wenn auch ohne Erfolg. Denn obgleich die nationale Partei dies¬
mal auf dem schwierigen Boden der Residenz einen ganzen, entschiedenen Mann
in der Person Wächter's als Candidaten aufgestellt hatte, der dem Philister-
thum zu prononcirt erschien, und obgleich die Hofclientel noch im letzten
Augenblicke die Weisung erhalten hatte, für den Candidaten der vereinten
ultramontanen und Volkspartei einzutreten, war diese Coalition dennoch mit


Grenzboten IV. 1872. 36 .

Nach längerer Unterbrechung erhalten Sie wieder einen Bericht aus
Schwaben. Die Zeiten sind vorbei, wo das politische Leben unseres Klein¬
staats noch die Aufmerksamkeit der Politiker in weiteren Kreisen auf sich zog,
und eine ungewohnte Ruhe, um nicht zu sagen Erschlaffung, hat in allen
Zweigen des öffentlichen Lebens Platz gegriffen. Wohl ist unsere Stände¬
kammer seit einigen Tagen zusammengetreten, um über die sehr praktischen
Fragen einer gründlichen Reform des Steuerwesens und einer weitern Aus¬
dehnung des Staatseisenbahnbaues schlüssig zu werden; aber man folgt ihren
Verhandlungen nur mit geringem Interesse: es fehlt überall an der Initiative
zu selbständigem Schaffen, zu principiellen Neugestaltungen auch auf dem
Boden der provinciellen Rechtssphäre, man fühlt selbst hier, nicht blos auf
dem Gebiete der hohen Politik, daß die Geschicke unseres Staats nicht mehr
in Stuttgart sondern in Berlin bestimmt werden.

Die deutsche Partei hat in den Commissionswahlen wie bei den Wahlen
zur Vieepräsidentenstelle ihre Candidaten mit großer Majorität durchgesetzt,
und Hölder, ihr bisheriger „Führer" ist so eben durch königl. Decret zum Vice-
Präsidenten der Kammer ernannt worden. Man sieht hieraus, daß das
Ministerium im gegenwärtigen Augenblicke eifrig bemüht ist, der deutschen
Partei die Hand zu bieten: es hat seine Stimmen in der Kammer ange-
wiesen, so weit es nur immer angeht, mit den nationalen einig zu gehen;
so daß es den Anschein haben könnte, als ob letztere gegenüber den etlichen
20 Stimmen der vereinigten ultramontanen und Volkspartei über den ganzen
Rest von 60—70 Stimmen gebieten und doch wäre dieß eine große Täuschung.
Ueberhaupt ist — von der ultramontanen Partei abgesehen — zur Zeit das
ganze bisherige Parteiwesen in Württemberg in sichtlicher Zersetzung begriffen.
Die Volkspartei wird thatsächlich nur noch durch das Interesse einiger nord¬
deutschen Literaten zusammengehalten: und die Ueberzeugung, daß auf der
bisherigen Bahn keine politischen Erfolge, namentlich keine parlamentarischen
Lorbeeren mehr zu erringen sind, ja nicht einmal mehr eine Stelle im Stutt¬
garter Gemeinderath zu erzielen ist, macht sich immer mehr geltend. Fast
möchte man glauben, diese Partei habe bei der neulichen Abgeordnetenwahl
für die Stadt Stuttgart den letzten Versuch gemacht, nochmals in die Action
zu treten, wenn auch ohne Erfolg. Denn obgleich die nationale Partei dies¬
mal auf dem schwierigen Boden der Residenz einen ganzen, entschiedenen Mann
in der Person Wächter's als Candidaten aufgestellt hatte, der dem Philister-
thum zu prononcirt erschien, und obgleich die Hofclientel noch im letzten
Augenblicke die Weisung erhalten hatte, für den Candidaten der vereinten
ultramontanen und Volkspartei einzutreten, war diese Coalition dennoch mit


Grenzboten IV. 1872. 36 .
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[0321] Nach längerer Unterbrechung erhalten Sie wieder einen Bericht aus Schwaben. Die Zeiten sind vorbei, wo das politische Leben unseres Klein¬ staats noch die Aufmerksamkeit der Politiker in weiteren Kreisen auf sich zog, und eine ungewohnte Ruhe, um nicht zu sagen Erschlaffung, hat in allen Zweigen des öffentlichen Lebens Platz gegriffen. Wohl ist unsere Stände¬ kammer seit einigen Tagen zusammengetreten, um über die sehr praktischen Fragen einer gründlichen Reform des Steuerwesens und einer weitern Aus¬ dehnung des Staatseisenbahnbaues schlüssig zu werden; aber man folgt ihren Verhandlungen nur mit geringem Interesse: es fehlt überall an der Initiative zu selbständigem Schaffen, zu principiellen Neugestaltungen auch auf dem Boden der provinciellen Rechtssphäre, man fühlt selbst hier, nicht blos auf dem Gebiete der hohen Politik, daß die Geschicke unseres Staats nicht mehr in Stuttgart sondern in Berlin bestimmt werden. Die deutsche Partei hat in den Commissionswahlen wie bei den Wahlen zur Vieepräsidentenstelle ihre Candidaten mit großer Majorität durchgesetzt, und Hölder, ihr bisheriger „Führer" ist so eben durch königl. Decret zum Vice- Präsidenten der Kammer ernannt worden. Man sieht hieraus, daß das Ministerium im gegenwärtigen Augenblicke eifrig bemüht ist, der deutschen Partei die Hand zu bieten: es hat seine Stimmen in der Kammer ange- wiesen, so weit es nur immer angeht, mit den nationalen einig zu gehen; so daß es den Anschein haben könnte, als ob letztere gegenüber den etlichen 20 Stimmen der vereinigten ultramontanen und Volkspartei über den ganzen Rest von 60—70 Stimmen gebieten und doch wäre dieß eine große Täuschung. Ueberhaupt ist — von der ultramontanen Partei abgesehen — zur Zeit das ganze bisherige Parteiwesen in Württemberg in sichtlicher Zersetzung begriffen. Die Volkspartei wird thatsächlich nur noch durch das Interesse einiger nord¬ deutschen Literaten zusammengehalten: und die Ueberzeugung, daß auf der bisherigen Bahn keine politischen Erfolge, namentlich keine parlamentarischen Lorbeeren mehr zu erringen sind, ja nicht einmal mehr eine Stelle im Stutt¬ garter Gemeinderath zu erzielen ist, macht sich immer mehr geltend. Fast möchte man glauben, diese Partei habe bei der neulichen Abgeordnetenwahl für die Stadt Stuttgart den letzten Versuch gemacht, nochmals in die Action zu treten, wenn auch ohne Erfolg. Denn obgleich die nationale Partei dies¬ mal auf dem schwierigen Boden der Residenz einen ganzen, entschiedenen Mann in der Person Wächter's als Candidaten aufgestellt hatte, der dem Philister- thum zu prononcirt erschien, und obgleich die Hofclientel noch im letzten Augenblicke die Weisung erhalten hatte, für den Candidaten der vereinten ultramontanen und Volkspartei einzutreten, war diese Coalition dennoch mit Grenzboten IV. 1872. 36 .

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/321>, abgerufen am 28.06.2024.