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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Die ältesten venetianischen Lpigramme Hoetlje's.

Anziehend bleibt es und lehrreich zugleich, den eigenthümlichen Wand¬
lungen zu folgen, welche die Goethe'schen Schöpfungen vom Entwurf bis zu
ihrer höchsten Vollendung sowohl dem Inhalte als der Form nach erlebt
haben. Auch für die Herstellung der chronologischen Folge vieler Einzelheiten,
die jetzt angestrebt wird, erweisen sich je nach Umständen die Originale Goethe's
oder deren gleichzeitige Abschriften als höchst wichtig. Leider ist in dieser
Beziehung ein gewaltiger Verlust für die Literatur der klassischen Periode da¬
durch herbeigeführt worden, daß über dem handschriftlichen Nachlaß der Her¬
zogin Anna Amalia ein Unstern gewaltet hat. Gerade sie war es ja, die
wie sich leicht nachweisen läßt, einen großen Theil der Geistesproducte Wei¬
marischer Koryphäen nach ihrer unmittelbaren Vollendung entgegennahm.
Und gerade in deren Ursprünglichkeit finden wir den Werth, weil wir um so
sicherer die Wandlungen solcher Schöpfungen beurtheilen können, die sie bis
zu ihrer Veröffentlichung durchlebt haben.

Wenn man auch im Allgemeinen weiß, daß die Venetianischen Epigramme
in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht auf uns gekommen sind, so ist doch die
Textesänderung nur in geringem Maße dem Leser vor die Seele gestellt wor¬
den und ein Versuch, das Alter der Epigramme zu untersuchen und festzu¬
stellen, ist natürlich an dem Mangel geeigneter Mittel gescheitert. Wir treten
daher den Beweis um so lieber an, daß Amalia's Nachlaß für die kritischen
Arbeiten eine bedeutende Fundgrube sei und kommen dabei auf das Exemplar
der Venetianischen Epigramme zurück, welche Goethe der Herzogin in einer
nicht mehr festzustellenden Zeit, jedenfalls aber im Jahre 1791 als Geschenk
übermittelte.

Merkwürdiger Weise ist man über das lidöUuw epigiÄMivativum, wie
es Goethe bei seinem allmähligen Entstehen wiederholt nennt, in mancherlei
Irrthümern befangen und vielleicht trägt diese Benennung am meisten dazu
bei, daß man an ein Buch gedacht, in welches Goethe förmlich hineingearbeitet
und mit Vorbedacht die Reihenfolge der Epigramme bestimmt habe, wie wir
sie in der Ausgabe letzter Hand vor uns haben. Das ist völlig irrig. Ge¬
rade so verschieden, wie die maßgebenden Eindrücke seines Lebens in Venedig
waren, so sind es auch seine Epigramme, die er auf die verschiedensten Blätter
hinwarf. Und wenn er von der Vollendung dieses Epigrammen-Büchleins
spricht, so konnte es sich nur darum handeln, die verschiedenen Blätter gleich¬
mäßiger zu gestalten, zu ordnen, wo Verwandtes zusammenzufügen war, um
endlich durch eine Reinschrift das Buch fertig zu stellen. Aber auch in der
vollendeten Gestalt haben die Venetianischen Epigramme das Aeußere eines
Buches nie gehabt. Es wäre auch ganz gegen das Interesse Goethe's und


Die ältesten venetianischen Lpigramme Hoetlje's.

Anziehend bleibt es und lehrreich zugleich, den eigenthümlichen Wand¬
lungen zu folgen, welche die Goethe'schen Schöpfungen vom Entwurf bis zu
ihrer höchsten Vollendung sowohl dem Inhalte als der Form nach erlebt
haben. Auch für die Herstellung der chronologischen Folge vieler Einzelheiten,
die jetzt angestrebt wird, erweisen sich je nach Umständen die Originale Goethe's
oder deren gleichzeitige Abschriften als höchst wichtig. Leider ist in dieser
Beziehung ein gewaltiger Verlust für die Literatur der klassischen Periode da¬
durch herbeigeführt worden, daß über dem handschriftlichen Nachlaß der Her¬
zogin Anna Amalia ein Unstern gewaltet hat. Gerade sie war es ja, die
wie sich leicht nachweisen läßt, einen großen Theil der Geistesproducte Wei¬
marischer Koryphäen nach ihrer unmittelbaren Vollendung entgegennahm.
Und gerade in deren Ursprünglichkeit finden wir den Werth, weil wir um so
sicherer die Wandlungen solcher Schöpfungen beurtheilen können, die sie bis
zu ihrer Veröffentlichung durchlebt haben.

Wenn man auch im Allgemeinen weiß, daß die Venetianischen Epigramme
in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht auf uns gekommen sind, so ist doch die
Textesänderung nur in geringem Maße dem Leser vor die Seele gestellt wor¬
den und ein Versuch, das Alter der Epigramme zu untersuchen und festzu¬
stellen, ist natürlich an dem Mangel geeigneter Mittel gescheitert. Wir treten
daher den Beweis um so lieber an, daß Amalia's Nachlaß für die kritischen
Arbeiten eine bedeutende Fundgrube sei und kommen dabei auf das Exemplar
der Venetianischen Epigramme zurück, welche Goethe der Herzogin in einer
nicht mehr festzustellenden Zeit, jedenfalls aber im Jahre 1791 als Geschenk
übermittelte.

Merkwürdiger Weise ist man über das lidöUuw epigiÄMivativum, wie
es Goethe bei seinem allmähligen Entstehen wiederholt nennt, in mancherlei
Irrthümern befangen und vielleicht trägt diese Benennung am meisten dazu
bei, daß man an ein Buch gedacht, in welches Goethe förmlich hineingearbeitet
und mit Vorbedacht die Reihenfolge der Epigramme bestimmt habe, wie wir
sie in der Ausgabe letzter Hand vor uns haben. Das ist völlig irrig. Ge¬
rade so verschieden, wie die maßgebenden Eindrücke seines Lebens in Venedig
waren, so sind es auch seine Epigramme, die er auf die verschiedensten Blätter
hinwarf. Und wenn er von der Vollendung dieses Epigrammen-Büchleins
spricht, so konnte es sich nur darum handeln, die verschiedenen Blätter gleich¬
mäßiger zu gestalten, zu ordnen, wo Verwandtes zusammenzufügen war, um
endlich durch eine Reinschrift das Buch fertig zu stellen. Aber auch in der
vollendeten Gestalt haben die Venetianischen Epigramme das Aeußere eines
Buches nie gehabt. Es wäre auch ganz gegen das Interesse Goethe's und


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[0282] Die ältesten venetianischen Lpigramme Hoetlje's. Anziehend bleibt es und lehrreich zugleich, den eigenthümlichen Wand¬ lungen zu folgen, welche die Goethe'schen Schöpfungen vom Entwurf bis zu ihrer höchsten Vollendung sowohl dem Inhalte als der Form nach erlebt haben. Auch für die Herstellung der chronologischen Folge vieler Einzelheiten, die jetzt angestrebt wird, erweisen sich je nach Umständen die Originale Goethe's oder deren gleichzeitige Abschriften als höchst wichtig. Leider ist in dieser Beziehung ein gewaltiger Verlust für die Literatur der klassischen Periode da¬ durch herbeigeführt worden, daß über dem handschriftlichen Nachlaß der Her¬ zogin Anna Amalia ein Unstern gewaltet hat. Gerade sie war es ja, die wie sich leicht nachweisen läßt, einen großen Theil der Geistesproducte Wei¬ marischer Koryphäen nach ihrer unmittelbaren Vollendung entgegennahm. Und gerade in deren Ursprünglichkeit finden wir den Werth, weil wir um so sicherer die Wandlungen solcher Schöpfungen beurtheilen können, die sie bis zu ihrer Veröffentlichung durchlebt haben. Wenn man auch im Allgemeinen weiß, daß die Venetianischen Epigramme in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht auf uns gekommen sind, so ist doch die Textesänderung nur in geringem Maße dem Leser vor die Seele gestellt wor¬ den und ein Versuch, das Alter der Epigramme zu untersuchen und festzu¬ stellen, ist natürlich an dem Mangel geeigneter Mittel gescheitert. Wir treten daher den Beweis um so lieber an, daß Amalia's Nachlaß für die kritischen Arbeiten eine bedeutende Fundgrube sei und kommen dabei auf das Exemplar der Venetianischen Epigramme zurück, welche Goethe der Herzogin in einer nicht mehr festzustellenden Zeit, jedenfalls aber im Jahre 1791 als Geschenk übermittelte. Merkwürdiger Weise ist man über das lidöUuw epigiÄMivativum, wie es Goethe bei seinem allmähligen Entstehen wiederholt nennt, in mancherlei Irrthümern befangen und vielleicht trägt diese Benennung am meisten dazu bei, daß man an ein Buch gedacht, in welches Goethe förmlich hineingearbeitet und mit Vorbedacht die Reihenfolge der Epigramme bestimmt habe, wie wir sie in der Ausgabe letzter Hand vor uns haben. Das ist völlig irrig. Ge¬ rade so verschieden, wie die maßgebenden Eindrücke seines Lebens in Venedig waren, so sind es auch seine Epigramme, die er auf die verschiedensten Blätter hinwarf. Und wenn er von der Vollendung dieses Epigrammen-Büchleins spricht, so konnte es sich nur darum handeln, die verschiedenen Blätter gleich¬ mäßiger zu gestalten, zu ordnen, wo Verwandtes zusammenzufügen war, um endlich durch eine Reinschrift das Buch fertig zu stellen. Aber auch in der vollendeten Gestalt haben die Venetianischen Epigramme das Aeußere eines Buches nie gehabt. Es wäre auch ganz gegen das Interesse Goethe's und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/282>, abgerufen am 03.07.2024.