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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Jigeunersttten.
ii.

Daß die Zigeuner auch Kinderraub treiben, ist oft behauptet worden.
Neben dem Fall mit Anna Böller wurden in den letzten Monaten noch zwei
andere gemeldet, und Liebich führt aus thüringischen Blättern noch drei an,
die sämmtlich der neuesten Zeit angehören.

Anfangs 1860 verschwand das Kind eines Gerichtsactuars in Striegau.
Der bekümmerte Vater suchte es vergebens und kam auch nach Cöslin, wo
in einer Plantage ein Kind ausgesetzt worden war. Später, Anfangs October
des genannten Jahres traf zu Callins in Pommern eine Zigeunerbande ein,
und ein gerade durchreisender Fremder aus Striegau bemerkte bei derselben
das vermißte Kind, welches von dem hiervon benachrichtigten Vater denn auch
wirklich als das seinige erkannt wurde.

Kurz nach diesem Vorfall wurde in einer andern schlesischen Stadt
wieder ein Kind, wie man glaubte, von Zigeunern, entführt. Einige Zeit
nachher fand man eine Kinderleiche in einer Düngergrube nicht fern von
da, und es wurde vermuthet, daß es die Leiche des vermißten Kindes
sei. Bald darauf hörte man, daß zu Schweidnitz ein Zigeuner verhaftet
worden, der den Kinderraub förmlich als Gewerbe betrieben habe. Er hatte
sich einen falschen Namen beigelegt und war mit drei Kindern als Musikant,
Marionetten-Spieler und Kammerjäger herumgezogen. Seine Frau, die sich
mit Wahrsagen und Kartenschlagen ernährt und nebenbei etliche Diebstähle
verübt hatte, war ebenfalls beschuldigt, verschiedene Namen geführt zu haben.
Die Kinder, welche dieses wackre Ehepaar bei sich hatte, schienen zwar Zigeuner¬
kinder zu sein, erzählten aber übereinstimmend von zwei blondhaariger andern
Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren, welche die Eltern lange Zeit
mit sich herumgeführt und zuletzt an den "Onkel Winter", einen kinderlosen
Zigeuner, abgetreten hätten.

Aus Csüd in Ungarn endlich berichteten die Zeitungen um die Mitte des
Jahres 1862 folgende Schauergeschichte: "Vor einigen Tagen hörte ein Pandur
an einem abgelegenen Orte einen schrecklichen Schrei von einer Kinderstimme
ausstoßen. Er eilte hin und überraschte drei Zigeuner, die einem fünfjähri-


Grenzboten IV. 1872. , 31
Jigeunersttten.
ii.

Daß die Zigeuner auch Kinderraub treiben, ist oft behauptet worden.
Neben dem Fall mit Anna Böller wurden in den letzten Monaten noch zwei
andere gemeldet, und Liebich führt aus thüringischen Blättern noch drei an,
die sämmtlich der neuesten Zeit angehören.

Anfangs 1860 verschwand das Kind eines Gerichtsactuars in Striegau.
Der bekümmerte Vater suchte es vergebens und kam auch nach Cöslin, wo
in einer Plantage ein Kind ausgesetzt worden war. Später, Anfangs October
des genannten Jahres traf zu Callins in Pommern eine Zigeunerbande ein,
und ein gerade durchreisender Fremder aus Striegau bemerkte bei derselben
das vermißte Kind, welches von dem hiervon benachrichtigten Vater denn auch
wirklich als das seinige erkannt wurde.

Kurz nach diesem Vorfall wurde in einer andern schlesischen Stadt
wieder ein Kind, wie man glaubte, von Zigeunern, entführt. Einige Zeit
nachher fand man eine Kinderleiche in einer Düngergrube nicht fern von
da, und es wurde vermuthet, daß es die Leiche des vermißten Kindes
sei. Bald darauf hörte man, daß zu Schweidnitz ein Zigeuner verhaftet
worden, der den Kinderraub förmlich als Gewerbe betrieben habe. Er hatte
sich einen falschen Namen beigelegt und war mit drei Kindern als Musikant,
Marionetten-Spieler und Kammerjäger herumgezogen. Seine Frau, die sich
mit Wahrsagen und Kartenschlagen ernährt und nebenbei etliche Diebstähle
verübt hatte, war ebenfalls beschuldigt, verschiedene Namen geführt zu haben.
Die Kinder, welche dieses wackre Ehepaar bei sich hatte, schienen zwar Zigeuner¬
kinder zu sein, erzählten aber übereinstimmend von zwei blondhaariger andern
Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren, welche die Eltern lange Zeit
mit sich herumgeführt und zuletzt an den „Onkel Winter", einen kinderlosen
Zigeuner, abgetreten hätten.

Aus Csüd in Ungarn endlich berichteten die Zeitungen um die Mitte des
Jahres 1862 folgende Schauergeschichte: „Vor einigen Tagen hörte ein Pandur
an einem abgelegenen Orte einen schrecklichen Schrei von einer Kinderstimme
ausstoßen. Er eilte hin und überraschte drei Zigeuner, die einem fünfjähri-


Grenzboten IV. 1872. , 31
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[0249] Jigeunersttten. ii. Daß die Zigeuner auch Kinderraub treiben, ist oft behauptet worden. Neben dem Fall mit Anna Böller wurden in den letzten Monaten noch zwei andere gemeldet, und Liebich führt aus thüringischen Blättern noch drei an, die sämmtlich der neuesten Zeit angehören. Anfangs 1860 verschwand das Kind eines Gerichtsactuars in Striegau. Der bekümmerte Vater suchte es vergebens und kam auch nach Cöslin, wo in einer Plantage ein Kind ausgesetzt worden war. Später, Anfangs October des genannten Jahres traf zu Callins in Pommern eine Zigeunerbande ein, und ein gerade durchreisender Fremder aus Striegau bemerkte bei derselben das vermißte Kind, welches von dem hiervon benachrichtigten Vater denn auch wirklich als das seinige erkannt wurde. Kurz nach diesem Vorfall wurde in einer andern schlesischen Stadt wieder ein Kind, wie man glaubte, von Zigeunern, entführt. Einige Zeit nachher fand man eine Kinderleiche in einer Düngergrube nicht fern von da, und es wurde vermuthet, daß es die Leiche des vermißten Kindes sei. Bald darauf hörte man, daß zu Schweidnitz ein Zigeuner verhaftet worden, der den Kinderraub förmlich als Gewerbe betrieben habe. Er hatte sich einen falschen Namen beigelegt und war mit drei Kindern als Musikant, Marionetten-Spieler und Kammerjäger herumgezogen. Seine Frau, die sich mit Wahrsagen und Kartenschlagen ernährt und nebenbei etliche Diebstähle verübt hatte, war ebenfalls beschuldigt, verschiedene Namen geführt zu haben. Die Kinder, welche dieses wackre Ehepaar bei sich hatte, schienen zwar Zigeuner¬ kinder zu sein, erzählten aber übereinstimmend von zwei blondhaariger andern Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren, welche die Eltern lange Zeit mit sich herumgeführt und zuletzt an den „Onkel Winter", einen kinderlosen Zigeuner, abgetreten hätten. Aus Csüd in Ungarn endlich berichteten die Zeitungen um die Mitte des Jahres 1862 folgende Schauergeschichte: „Vor einigen Tagen hörte ein Pandur an einem abgelegenen Orte einen schrecklichen Schrei von einer Kinderstimme ausstoßen. Er eilte hin und überraschte drei Zigeuner, die einem fünfjähri- Grenzboten IV. 1872. , 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/249>, abgerufen am 22.07.2024.