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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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so zu sagen canonische Richtung angenommen und schildert weibliche Frei¬
gebigkeit meisterhaft. Aber Almosen werden die Franzosen vor der socialen
Frage nicht retten, ja ein Werk über die gefährlichen Classen der Pariser Be¬
völkerung von Ceve, in welchem nachgewiesen ist. daß 30,000 Pariser in Kerkern
sitzen, und 120,000 in den Krankenhäusern liegen, erwartet umgekehrt die
Rettung nur vom Socialismus. Solchen Thorheiten gegenüber ist die kluge
und maßvolle Wirthschafts- und Steuerpolitik Michael Chevaliers wohl das
Beste, was Frankreich auf diesem Gebiete seit dem Kriege geleistet hat, viel¬
leicht überhaupt das Beste. Dieser gewesene Senator und Mac-Präsident des
Lr6an Uobilier ist zwar in Amerika gewesen, er ist aber kein Republikaner
geworden und in der "Presse," zu welcher er von dem "Journal des Debats"
übergetreten ist, bekämpft er bitter und scharfsinnig die schutzzöllnerischen Mi߬
griffe des Präsidenten Thiers.

Jetzt sollen gar die neu erscheinenden Bücher mit einer Abgabe belegt
werden, die sechs Millionen jährlich einbringen soll. Die Herren Victor Hugo
und Louis Blane haben schon die Gelegenheit ergriffen, um zu erklären, daß
auch Schriftsteller der Landesnoth zu Hülfe kommen müßten. Ihr Blödsinn
verkauft sich so gut, daß uns diese Steuer, auf ihren Werken, gewissermaßen
als höhere Blödsinnssteuer, von jedem Gesichtspunkt aus überaus vernünftig
vorkäme. Aber dafür finden die meisten und besten Werke einschließlich der
wissenschaftlichen und populär-belehrenden nur ihre 1S0 Abnehmer! Das
Papier ist außerdem schon besteuert und das Gehirn als Rohstoff zu behandeln
ist nicht das letzte Wort der Weisheit.


c>.


Wir bringen gern den nachstehenden Aufruf des deutschen Bibliothek-Ver¬
eins von Chicago (Illinois, Ver. Staaten) zum Abdruck:


Aufruf.

Als im Verlaufe des letzten so entscheidenden Krieges zwischen Deutschland
und Frankreich die alte Feste Straßburg belagert und in Folge der nothwen¬
digen Kriegsmaßregeln ein Theil der berühmten Bibliothek jener Stadt ein¬
geäschert wurde, -- da erscholl ein allgemeiner Schrei der Bestürzung und des
Bedauerns aus allen Theilen der civilisirten Welt. Und sobald nur die von
der Kriegsfurie so schwer heimgesuchten Gegenden am linken Rheinufer des
Friedens sich erfreuen und an einen Wiederaufbau des Zerstörten sich wagen
konnten, bemühte man sich auch aller Orten, das Seinige zur Wiederherstellung


so zu sagen canonische Richtung angenommen und schildert weibliche Frei¬
gebigkeit meisterhaft. Aber Almosen werden die Franzosen vor der socialen
Frage nicht retten, ja ein Werk über die gefährlichen Classen der Pariser Be¬
völkerung von Ceve, in welchem nachgewiesen ist. daß 30,000 Pariser in Kerkern
sitzen, und 120,000 in den Krankenhäusern liegen, erwartet umgekehrt die
Rettung nur vom Socialismus. Solchen Thorheiten gegenüber ist die kluge
und maßvolle Wirthschafts- und Steuerpolitik Michael Chevaliers wohl das
Beste, was Frankreich auf diesem Gebiete seit dem Kriege geleistet hat, viel¬
leicht überhaupt das Beste. Dieser gewesene Senator und Mac-Präsident des
Lr6an Uobilier ist zwar in Amerika gewesen, er ist aber kein Republikaner
geworden und in der „Presse," zu welcher er von dem „Journal des Debats"
übergetreten ist, bekämpft er bitter und scharfsinnig die schutzzöllnerischen Mi߬
griffe des Präsidenten Thiers.

Jetzt sollen gar die neu erscheinenden Bücher mit einer Abgabe belegt
werden, die sechs Millionen jährlich einbringen soll. Die Herren Victor Hugo
und Louis Blane haben schon die Gelegenheit ergriffen, um zu erklären, daß
auch Schriftsteller der Landesnoth zu Hülfe kommen müßten. Ihr Blödsinn
verkauft sich so gut, daß uns diese Steuer, auf ihren Werken, gewissermaßen
als höhere Blödsinnssteuer, von jedem Gesichtspunkt aus überaus vernünftig
vorkäme. Aber dafür finden die meisten und besten Werke einschließlich der
wissenschaftlichen und populär-belehrenden nur ihre 1S0 Abnehmer! Das
Papier ist außerdem schon besteuert und das Gehirn als Rohstoff zu behandeln
ist nicht das letzte Wort der Weisheit.


c>.


Wir bringen gern den nachstehenden Aufruf des deutschen Bibliothek-Ver¬
eins von Chicago (Illinois, Ver. Staaten) zum Abdruck:


Aufruf.

Als im Verlaufe des letzten so entscheidenden Krieges zwischen Deutschland
und Frankreich die alte Feste Straßburg belagert und in Folge der nothwen¬
digen Kriegsmaßregeln ein Theil der berühmten Bibliothek jener Stadt ein¬
geäschert wurde, — da erscholl ein allgemeiner Schrei der Bestürzung und des
Bedauerns aus allen Theilen der civilisirten Welt. Und sobald nur die von
der Kriegsfurie so schwer heimgesuchten Gegenden am linken Rheinufer des
Friedens sich erfreuen und an einen Wiederaufbau des Zerstörten sich wagen
konnten, bemühte man sich auch aller Orten, das Seinige zur Wiederherstellung


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[0274] so zu sagen canonische Richtung angenommen und schildert weibliche Frei¬ gebigkeit meisterhaft. Aber Almosen werden die Franzosen vor der socialen Frage nicht retten, ja ein Werk über die gefährlichen Classen der Pariser Be¬ völkerung von Ceve, in welchem nachgewiesen ist. daß 30,000 Pariser in Kerkern sitzen, und 120,000 in den Krankenhäusern liegen, erwartet umgekehrt die Rettung nur vom Socialismus. Solchen Thorheiten gegenüber ist die kluge und maßvolle Wirthschafts- und Steuerpolitik Michael Chevaliers wohl das Beste, was Frankreich auf diesem Gebiete seit dem Kriege geleistet hat, viel¬ leicht überhaupt das Beste. Dieser gewesene Senator und Mac-Präsident des Lr6an Uobilier ist zwar in Amerika gewesen, er ist aber kein Republikaner geworden und in der „Presse," zu welcher er von dem „Journal des Debats" übergetreten ist, bekämpft er bitter und scharfsinnig die schutzzöllnerischen Mi߬ griffe des Präsidenten Thiers. Jetzt sollen gar die neu erscheinenden Bücher mit einer Abgabe belegt werden, die sechs Millionen jährlich einbringen soll. Die Herren Victor Hugo und Louis Blane haben schon die Gelegenheit ergriffen, um zu erklären, daß auch Schriftsteller der Landesnoth zu Hülfe kommen müßten. Ihr Blödsinn verkauft sich so gut, daß uns diese Steuer, auf ihren Werken, gewissermaßen als höhere Blödsinnssteuer, von jedem Gesichtspunkt aus überaus vernünftig vorkäme. Aber dafür finden die meisten und besten Werke einschließlich der wissenschaftlichen und populär-belehrenden nur ihre 1S0 Abnehmer! Das Papier ist außerdem schon besteuert und das Gehirn als Rohstoff zu behandeln ist nicht das letzte Wort der Weisheit. c>. Wir bringen gern den nachstehenden Aufruf des deutschen Bibliothek-Ver¬ eins von Chicago (Illinois, Ver. Staaten) zum Abdruck: Aufruf. Als im Verlaufe des letzten so entscheidenden Krieges zwischen Deutschland und Frankreich die alte Feste Straßburg belagert und in Folge der nothwen¬ digen Kriegsmaßregeln ein Theil der berühmten Bibliothek jener Stadt ein¬ geäschert wurde, — da erscholl ein allgemeiner Schrei der Bestürzung und des Bedauerns aus allen Theilen der civilisirten Welt. Und sobald nur die von der Kriegsfurie so schwer heimgesuchten Gegenden am linken Rheinufer des Friedens sich erfreuen und an einen Wiederaufbau des Zerstörten sich wagen konnten, bemühte man sich auch aller Orten, das Seinige zur Wiederherstellung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/274>, abgerufen am 22.07.2024.