Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Der bayerische Separatismus im deutschen Heerwesen.

Unter diesem Titel ist die gleichnamige Arbeit in den "Militärischen
Blättern", welche seiner Zeit mit Recht bedeutendes Aufsehen erregte im Se¬
paratabdruck erschienen. (Berlin. 1872, Expedition der "Militärischen Blätter".)
Im Interesse der großen Wichtigkeit der Sache gehen wir auf diese Schrift
näher ein. Die Sicherheit des Verfassers in der Beurtheilung seines Stoffes
ist eine so große und sein Urtheil, selbst über die höchsten Persönlichkeiten im
bayerischen Kriegswesen ein so freimüthiges, daß viele nord- und süddeutsche
und selbst österreichische Zeitungen dieser Arbeit einen officiösen Charakter
andichten wollten, und die "Wiener Armeezeitung" denselben sogar als Aus¬
fluß eines Berliner Systems der Pression auf Bayern ansah und die Be¬
schleunigung der Neuformation der bayerischen Armee direct mit diesem Aufsatz
in Verbindung brachte.

Indessen ganz abgesehen von der Versicherung des Verfassers selbst, daß
er "unabhängig und ohne jede Inspiration von irgend einer Behörde oder
leitenden Persönlichkeit geschrieben und keine andre Norm für seine Anschau¬
ungen gekannt habe, als seinen Verstand und sein Gewissen", ist der beste
Beweis für die Individualität seines Urtheils die Thatsache, daß auch eine
gegnerische Feder in den "Militärischen Blättern" sich gegen ihn erhoben hat.
Selbstverständlich ist dies kein Beweis gegen sondern für die Wichtigkeit seiner
Bemerkungen.

Der Verfasser geht im ersten Theile dieser Schrift von folgenden "An¬
schauungen aus: In Wirklichkeit bestünden im deutschen Reiche 2 Heere, ein
preußisch-deutsches und ein bayerisches und diese Verschiedenheit drücke
sich nicht etwa blos in Aeußerlichkeiten wie in Cocarden, Schärpen oder auch
selbst nur in der Uniform aus, sondern in den wichtigsten Elementen des
Heerwesens selbst. In Preußen gehe die militärische Erziehung auf ein stram¬
mes, zur Weckung persönlicher Energie und selbstbewußter Kraft bestimmtes
Wesen aus, in Bayern sei ein dem französischen verwandtes legeres Wesen in
Haltung, Exercitium und allen dienstlichen Functionen die Regel. Die bayerische
Armee sei der österreichischen oder französischen viel ähnlicher als der preußi¬
schen, und gerade das neue Exercierreglement der Infanterie von 1868 halte
sich von dem preußischen systematisch so weit fern, als nur möglich. Der
bayerische Rekrut sei zwar ziemlich anstellig, stehe aber im Ganzen an Schul¬
bildung gegen den Norddeutschen und übrigen Süddeutschen zurück. Gerade
das zu sehr naturwüchsige Wesen bedürfe der strammen, preußischen Dienst¬
schule. Die bayerische Armee habe ihre großen Mängel im letzten Kriege durch
Bravour und rücksichtsloses Draufgehen zu verdecken verstanden, aber bestünden


Der bayerische Separatismus im deutschen Heerwesen.

Unter diesem Titel ist die gleichnamige Arbeit in den „Militärischen
Blättern", welche seiner Zeit mit Recht bedeutendes Aufsehen erregte im Se¬
paratabdruck erschienen. (Berlin. 1872, Expedition der „Militärischen Blätter".)
Im Interesse der großen Wichtigkeit der Sache gehen wir auf diese Schrift
näher ein. Die Sicherheit des Verfassers in der Beurtheilung seines Stoffes
ist eine so große und sein Urtheil, selbst über die höchsten Persönlichkeiten im
bayerischen Kriegswesen ein so freimüthiges, daß viele nord- und süddeutsche
und selbst österreichische Zeitungen dieser Arbeit einen officiösen Charakter
andichten wollten, und die „Wiener Armeezeitung" denselben sogar als Aus¬
fluß eines Berliner Systems der Pression auf Bayern ansah und die Be¬
schleunigung der Neuformation der bayerischen Armee direct mit diesem Aufsatz
in Verbindung brachte.

Indessen ganz abgesehen von der Versicherung des Verfassers selbst, daß
er „unabhängig und ohne jede Inspiration von irgend einer Behörde oder
leitenden Persönlichkeit geschrieben und keine andre Norm für seine Anschau¬
ungen gekannt habe, als seinen Verstand und sein Gewissen", ist der beste
Beweis für die Individualität seines Urtheils die Thatsache, daß auch eine
gegnerische Feder in den „Militärischen Blättern" sich gegen ihn erhoben hat.
Selbstverständlich ist dies kein Beweis gegen sondern für die Wichtigkeit seiner
Bemerkungen.

Der Verfasser geht im ersten Theile dieser Schrift von folgenden "An¬
schauungen aus: In Wirklichkeit bestünden im deutschen Reiche 2 Heere, ein
preußisch-deutsches und ein bayerisches und diese Verschiedenheit drücke
sich nicht etwa blos in Aeußerlichkeiten wie in Cocarden, Schärpen oder auch
selbst nur in der Uniform aus, sondern in den wichtigsten Elementen des
Heerwesens selbst. In Preußen gehe die militärische Erziehung auf ein stram¬
mes, zur Weckung persönlicher Energie und selbstbewußter Kraft bestimmtes
Wesen aus, in Bayern sei ein dem französischen verwandtes legeres Wesen in
Haltung, Exercitium und allen dienstlichen Functionen die Regel. Die bayerische
Armee sei der österreichischen oder französischen viel ähnlicher als der preußi¬
schen, und gerade das neue Exercierreglement der Infanterie von 1868 halte
sich von dem preußischen systematisch so weit fern, als nur möglich. Der
bayerische Rekrut sei zwar ziemlich anstellig, stehe aber im Ganzen an Schul¬
bildung gegen den Norddeutschen und übrigen Süddeutschen zurück. Gerade
das zu sehr naturwüchsige Wesen bedürfe der strammen, preußischen Dienst¬
schule. Die bayerische Armee habe ihre großen Mängel im letzten Kriege durch
Bravour und rücksichtsloses Draufgehen zu verdecken verstanden, aber bestünden


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0240" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128168"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der bayerische Separatismus im deutschen Heerwesen.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_814"> Unter diesem Titel ist die gleichnamige Arbeit in den &#x201E;Militärischen<lb/>
Blättern", welche seiner Zeit mit Recht bedeutendes Aufsehen erregte im Se¬<lb/>
paratabdruck erschienen. (Berlin. 1872, Expedition der &#x201E;Militärischen Blätter".)<lb/>
Im Interesse der großen Wichtigkeit der Sache gehen wir auf diese Schrift<lb/>
näher ein. Die Sicherheit des Verfassers in der Beurtheilung seines Stoffes<lb/>
ist eine so große und sein Urtheil, selbst über die höchsten Persönlichkeiten im<lb/>
bayerischen Kriegswesen ein so freimüthiges, daß viele nord- und süddeutsche<lb/>
und selbst österreichische Zeitungen dieser Arbeit einen officiösen Charakter<lb/>
andichten wollten, und die &#x201E;Wiener Armeezeitung" denselben sogar als Aus¬<lb/>
fluß eines Berliner Systems der Pression auf Bayern ansah und die Be¬<lb/>
schleunigung der Neuformation der bayerischen Armee direct mit diesem Aufsatz<lb/>
in Verbindung brachte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_815"> Indessen ganz abgesehen von der Versicherung des Verfassers selbst, daß<lb/>
er &#x201E;unabhängig und ohne jede Inspiration von irgend einer Behörde oder<lb/>
leitenden Persönlichkeit geschrieben und keine andre Norm für seine Anschau¬<lb/>
ungen gekannt habe, als seinen Verstand und sein Gewissen", ist der beste<lb/>
Beweis für die Individualität seines Urtheils die Thatsache, daß auch eine<lb/>
gegnerische Feder in den &#x201E;Militärischen Blättern" sich gegen ihn erhoben hat.<lb/>
Selbstverständlich ist dies kein Beweis gegen sondern für die Wichtigkeit seiner<lb/>
Bemerkungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_816" next="#ID_817"> Der Verfasser geht im ersten Theile dieser Schrift von folgenden "An¬<lb/>
schauungen aus: In Wirklichkeit bestünden im deutschen Reiche 2 Heere, ein<lb/>
preußisch-deutsches und ein bayerisches und diese Verschiedenheit drücke<lb/>
sich nicht etwa blos in Aeußerlichkeiten wie in Cocarden, Schärpen oder auch<lb/>
selbst nur in der Uniform aus, sondern in den wichtigsten Elementen des<lb/>
Heerwesens selbst. In Preußen gehe die militärische Erziehung auf ein stram¬<lb/>
mes, zur Weckung persönlicher Energie und selbstbewußter Kraft bestimmtes<lb/>
Wesen aus, in Bayern sei ein dem französischen verwandtes legeres Wesen in<lb/>
Haltung, Exercitium und allen dienstlichen Functionen die Regel. Die bayerische<lb/>
Armee sei der österreichischen oder französischen viel ähnlicher als der preußi¬<lb/>
schen, und gerade das neue Exercierreglement der Infanterie von 1868 halte<lb/>
sich von dem preußischen systematisch so weit fern, als nur möglich. Der<lb/>
bayerische Rekrut sei zwar ziemlich anstellig, stehe aber im Ganzen an Schul¬<lb/>
bildung gegen den Norddeutschen und übrigen Süddeutschen zurück. Gerade<lb/>
das zu sehr naturwüchsige Wesen bedürfe der strammen, preußischen Dienst¬<lb/>
schule. Die bayerische Armee habe ihre großen Mängel im letzten Kriege durch<lb/>
Bravour und rücksichtsloses Draufgehen zu verdecken verstanden, aber bestünden</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0240] Der bayerische Separatismus im deutschen Heerwesen. Unter diesem Titel ist die gleichnamige Arbeit in den „Militärischen Blättern", welche seiner Zeit mit Recht bedeutendes Aufsehen erregte im Se¬ paratabdruck erschienen. (Berlin. 1872, Expedition der „Militärischen Blätter".) Im Interesse der großen Wichtigkeit der Sache gehen wir auf diese Schrift näher ein. Die Sicherheit des Verfassers in der Beurtheilung seines Stoffes ist eine so große und sein Urtheil, selbst über die höchsten Persönlichkeiten im bayerischen Kriegswesen ein so freimüthiges, daß viele nord- und süddeutsche und selbst österreichische Zeitungen dieser Arbeit einen officiösen Charakter andichten wollten, und die „Wiener Armeezeitung" denselben sogar als Aus¬ fluß eines Berliner Systems der Pression auf Bayern ansah und die Be¬ schleunigung der Neuformation der bayerischen Armee direct mit diesem Aufsatz in Verbindung brachte. Indessen ganz abgesehen von der Versicherung des Verfassers selbst, daß er „unabhängig und ohne jede Inspiration von irgend einer Behörde oder leitenden Persönlichkeit geschrieben und keine andre Norm für seine Anschau¬ ungen gekannt habe, als seinen Verstand und sein Gewissen", ist der beste Beweis für die Individualität seines Urtheils die Thatsache, daß auch eine gegnerische Feder in den „Militärischen Blättern" sich gegen ihn erhoben hat. Selbstverständlich ist dies kein Beweis gegen sondern für die Wichtigkeit seiner Bemerkungen. Der Verfasser geht im ersten Theile dieser Schrift von folgenden "An¬ schauungen aus: In Wirklichkeit bestünden im deutschen Reiche 2 Heere, ein preußisch-deutsches und ein bayerisches und diese Verschiedenheit drücke sich nicht etwa blos in Aeußerlichkeiten wie in Cocarden, Schärpen oder auch selbst nur in der Uniform aus, sondern in den wichtigsten Elementen des Heerwesens selbst. In Preußen gehe die militärische Erziehung auf ein stram¬ mes, zur Weckung persönlicher Energie und selbstbewußter Kraft bestimmtes Wesen aus, in Bayern sei ein dem französischen verwandtes legeres Wesen in Haltung, Exercitium und allen dienstlichen Functionen die Regel. Die bayerische Armee sei der österreichischen oder französischen viel ähnlicher als der preußi¬ schen, und gerade das neue Exercierreglement der Infanterie von 1868 halte sich von dem preußischen systematisch so weit fern, als nur möglich. Der bayerische Rekrut sei zwar ziemlich anstellig, stehe aber im Ganzen an Schul¬ bildung gegen den Norddeutschen und übrigen Süddeutschen zurück. Gerade das zu sehr naturwüchsige Wesen bedürfe der strammen, preußischen Dienst¬ schule. Die bayerische Armee habe ihre großen Mängel im letzten Kriege durch Bravour und rücksichtsloses Draufgehen zu verdecken verstanden, aber bestünden

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/240
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/240>, abgerufen am 24.08.2024.