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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Interesse besonders anzieht, vermag ich bisher aus den Acten noch keinen Auf¬
schluß zu gewinnen -- hat Glapion auf eigene Hand diesen Versuch unter¬
nommen, oder wagte er ihn, auf Karls persönliche Zustimmung gestützt?
Ich vermuthe, daß das Letztere der Fall war.

Am 17. und 18. April 1621 erschien Luther vor Kaiser und Reich. Er
legte noch einmal Zeugniß ab von der religiösen Energie, die ihn beseelte.
Tausende jubelten ihm zu. Die Massen drängten mit offener That ihre Ge¬
sinnung zu bekunden. Und Kaiser Karl? Er soll gesagt haben: "Der wird
mich nicht zum Ketzer machen." Ihm war das Verständniß Luther's voll¬
ständig verschlossen. Ihm fehlte gleichsam das Organ, um Luther's Charakter
zu begreifen: Religion außerhalb der durch die Jahrhunderte geheiligten all¬
gemeinen Kirche war ihm undenkbar: für alles von ihr Abweichende hatte er
nur den Begriff "Ketzerei". Kurz, sein principieller Standpunkt ist einfach,
-- aber furchtbar.

Nun hätte es wiederum in der Linie von Karls Wünschen gelegen, nach¬
dem Luther nicht widerrufen, ihn kurzweg unschädlich zu machen. Aber
wiederum gestatteten ihm die politischen Erwägungen dies nicht. Mit einem
Edicte von Kaiser und Reich, das die neue Ketzerei verwarf und bedrohte,
mußte er sich begnügen: ja die Ausführung des Edictes mußte er sogar den
einzelnen Landesfürsten überlassen. In der augenblicklichen Lage war es für
Karl ein Gewinn, daß er unversehrt seine Krone aus den deutschen Wirren
gerettet, und daß er den Ausbruch der großen deutschen Revolution gerade
durch seine "temporisirenden" Künste und Mittel hingehalten hatte. Er harrte
seiner Zeit.

Nachdem er die Regierung der östreichischen Lande, zu denen bald Ungarn
und Böhmen hinzukamen, in die Hand seines Bruders Ferdinand gelegt,
nachdem er die Verwaltung der Niederlande geordnet, kehrte er 1522 nach
Spanien zurück. Dort fand er damals für seine zukünftigen Aufgaben schon
die Wege geebnet und den Boden schon ausreichend vorbereitet.




An neuer Gapitän Gulliver.

"Erewhon oder Jenseits der Berge," so würde ich auf deutsch ein Buch
nennen, welches soeben in London bei Trübner u. Comp. erschienen ist, und
das wir in einigen von seinen Capiteln dem Besten, was die englische Humoristik
Swiftschen Stiles geleistet hat, an die Seite stellen möchten.

In einer vom Verfasser nicht näher bezeichneten Colonie, welche wir, wenn


Interesse besonders anzieht, vermag ich bisher aus den Acten noch keinen Auf¬
schluß zu gewinnen — hat Glapion auf eigene Hand diesen Versuch unter¬
nommen, oder wagte er ihn, auf Karls persönliche Zustimmung gestützt?
Ich vermuthe, daß das Letztere der Fall war.

Am 17. und 18. April 1621 erschien Luther vor Kaiser und Reich. Er
legte noch einmal Zeugniß ab von der religiösen Energie, die ihn beseelte.
Tausende jubelten ihm zu. Die Massen drängten mit offener That ihre Ge¬
sinnung zu bekunden. Und Kaiser Karl? Er soll gesagt haben: „Der wird
mich nicht zum Ketzer machen." Ihm war das Verständniß Luther's voll¬
ständig verschlossen. Ihm fehlte gleichsam das Organ, um Luther's Charakter
zu begreifen: Religion außerhalb der durch die Jahrhunderte geheiligten all¬
gemeinen Kirche war ihm undenkbar: für alles von ihr Abweichende hatte er
nur den Begriff „Ketzerei". Kurz, sein principieller Standpunkt ist einfach,
— aber furchtbar.

Nun hätte es wiederum in der Linie von Karls Wünschen gelegen, nach¬
dem Luther nicht widerrufen, ihn kurzweg unschädlich zu machen. Aber
wiederum gestatteten ihm die politischen Erwägungen dies nicht. Mit einem
Edicte von Kaiser und Reich, das die neue Ketzerei verwarf und bedrohte,
mußte er sich begnügen: ja die Ausführung des Edictes mußte er sogar den
einzelnen Landesfürsten überlassen. In der augenblicklichen Lage war es für
Karl ein Gewinn, daß er unversehrt seine Krone aus den deutschen Wirren
gerettet, und daß er den Ausbruch der großen deutschen Revolution gerade
durch seine „temporisirenden" Künste und Mittel hingehalten hatte. Er harrte
seiner Zeit.

Nachdem er die Regierung der östreichischen Lande, zu denen bald Ungarn
und Böhmen hinzukamen, in die Hand seines Bruders Ferdinand gelegt,
nachdem er die Verwaltung der Niederlande geordnet, kehrte er 1522 nach
Spanien zurück. Dort fand er damals für seine zukünftigen Aufgaben schon
die Wege geebnet und den Boden schon ausreichend vorbereitet.




An neuer Gapitän Gulliver.

„Erewhon oder Jenseits der Berge," so würde ich auf deutsch ein Buch
nennen, welches soeben in London bei Trübner u. Comp. erschienen ist, und
das wir in einigen von seinen Capiteln dem Besten, was die englische Humoristik
Swiftschen Stiles geleistet hat, an die Seite stellen möchten.

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[0380] Interesse besonders anzieht, vermag ich bisher aus den Acten noch keinen Auf¬ schluß zu gewinnen — hat Glapion auf eigene Hand diesen Versuch unter¬ nommen, oder wagte er ihn, auf Karls persönliche Zustimmung gestützt? Ich vermuthe, daß das Letztere der Fall war. Am 17. und 18. April 1621 erschien Luther vor Kaiser und Reich. Er legte noch einmal Zeugniß ab von der religiösen Energie, die ihn beseelte. Tausende jubelten ihm zu. Die Massen drängten mit offener That ihre Ge¬ sinnung zu bekunden. Und Kaiser Karl? Er soll gesagt haben: „Der wird mich nicht zum Ketzer machen." Ihm war das Verständniß Luther's voll¬ ständig verschlossen. Ihm fehlte gleichsam das Organ, um Luther's Charakter zu begreifen: Religion außerhalb der durch die Jahrhunderte geheiligten all¬ gemeinen Kirche war ihm undenkbar: für alles von ihr Abweichende hatte er nur den Begriff „Ketzerei". Kurz, sein principieller Standpunkt ist einfach, — aber furchtbar. Nun hätte es wiederum in der Linie von Karls Wünschen gelegen, nach¬ dem Luther nicht widerrufen, ihn kurzweg unschädlich zu machen. Aber wiederum gestatteten ihm die politischen Erwägungen dies nicht. Mit einem Edicte von Kaiser und Reich, das die neue Ketzerei verwarf und bedrohte, mußte er sich begnügen: ja die Ausführung des Edictes mußte er sogar den einzelnen Landesfürsten überlassen. In der augenblicklichen Lage war es für Karl ein Gewinn, daß er unversehrt seine Krone aus den deutschen Wirren gerettet, und daß er den Ausbruch der großen deutschen Revolution gerade durch seine „temporisirenden" Künste und Mittel hingehalten hatte. Er harrte seiner Zeit. Nachdem er die Regierung der östreichischen Lande, zu denen bald Ungarn und Böhmen hinzukamen, in die Hand seines Bruders Ferdinand gelegt, nachdem er die Verwaltung der Niederlande geordnet, kehrte er 1522 nach Spanien zurück. Dort fand er damals für seine zukünftigen Aufgaben schon die Wege geebnet und den Boden schon ausreichend vorbereitet. An neuer Gapitän Gulliver. „Erewhon oder Jenseits der Berge," so würde ich auf deutsch ein Buch nennen, welches soeben in London bei Trübner u. Comp. erschienen ist, und das wir in einigen von seinen Capiteln dem Besten, was die englische Humoristik Swiftschen Stiles geleistet hat, an die Seite stellen möchten. In einer vom Verfasser nicht näher bezeichneten Colonie, welche wir, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/380>, abgerufen am 22.07.2024.