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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Brasilien im Jahre 1871.

Abgesehen von den Vereinigten Staaten, hat das deutsche Reich zu keinem
amerikanischen Stackte so enge Beziehungen wie zu Brasilien. Dort wohnen
mindestens 80.000 unserer Landsleute, welche sich das volle Bewußtsein ihres
Deutschthums bewahrt haben, und die nicht wenig dazu beitragen, die Han¬
delsbeziehungen zwischen Brasilien und Deutschland immer enger zu gestalten.
Der Streit, welchen einige Seeleute des Kriegsschiffes "Nymphe" in Rio de
Janeiro hatten, und der vorübergehend zu diplomatischen Erörterungen zwi¬
schen dem neuen Reiche und der amerikanischen Monarchie führte, die Reise
des brasilianischen Kaisers durch Europa, endlich die Aufhebung der Neger-
sclaverei haben im verflossenen Jahre unser Interesse an Brasilien besonders
wach erhalten und es rechtfertigt sich somit, einen Rückblick auf dieses in einer
gedeihlichen Entwickelung befindliche Land zu werfen.

Das Cabinet, welches beim Beginne des Jahres 1871 an der Spitze des
Staates stand, war wegen seiner Nachlässigkeit und Schwäche keineswegs dazu
angethan, die wichtigen Fragen der inneren Politik Brasiliens, die eine Lösung
verlangten, zum Austrag zu führen. Der Ministerpräsident, Vicomte de San
Vincente, war durchaus unbeliebt; er trat zurück, ehe die Kammersession be¬
gann und wurde durch den Vicomte do Rio Branco ersetzt, dem das allge¬
meine Vertrauen entgegen kam. Abweichend von dem sonst in Brasilien üb¬
lichen Verfahren, wählte er nicht Veteranen in das neue Cabinet, sondern
umgab sich mit jüngeren Kräften der konservativen Partei, die, wenn der
Vergleich erlaubt, wir als "freiconservative Brasilianer" bezeichnen können.
Dieses Cabinet ermöglichte dem Kaiser, Dom Pedro II., zwei lange ge¬
hegte Lieblingswünsche zur Ausführung zu bringen, deren einer persönlicher
Art war. Schon lange hatte der Herrscher des halbcivilisirten Landes, dessen
Wohl und Wehe ihm entschieden am Herzen liegt, über das er seit nun 30
Jahren regiert, Europa besuchen wollen, um dort neue Anregungen sich
zu holen, Institutionen kennen zu lernen, die er mit Vortheil auf. Brasilien
übertragen konnte. Begleitet von der Kaiserin, besuchte er Belgien, Frank¬
reich, Deutschland, die Türkei, Palästina, Italien, und begab sich dann über
Spanien nach Portugal, der Wiege seiner Dynastie, von wo er vor kurzem


Grenzboten II. 1872. ^
Brasilien im Jahre 1871.

Abgesehen von den Vereinigten Staaten, hat das deutsche Reich zu keinem
amerikanischen Stackte so enge Beziehungen wie zu Brasilien. Dort wohnen
mindestens 80.000 unserer Landsleute, welche sich das volle Bewußtsein ihres
Deutschthums bewahrt haben, und die nicht wenig dazu beitragen, die Han¬
delsbeziehungen zwischen Brasilien und Deutschland immer enger zu gestalten.
Der Streit, welchen einige Seeleute des Kriegsschiffes „Nymphe" in Rio de
Janeiro hatten, und der vorübergehend zu diplomatischen Erörterungen zwi¬
schen dem neuen Reiche und der amerikanischen Monarchie führte, die Reise
des brasilianischen Kaisers durch Europa, endlich die Aufhebung der Neger-
sclaverei haben im verflossenen Jahre unser Interesse an Brasilien besonders
wach erhalten und es rechtfertigt sich somit, einen Rückblick auf dieses in einer
gedeihlichen Entwickelung befindliche Land zu werfen.

Das Cabinet, welches beim Beginne des Jahres 1871 an der Spitze des
Staates stand, war wegen seiner Nachlässigkeit und Schwäche keineswegs dazu
angethan, die wichtigen Fragen der inneren Politik Brasiliens, die eine Lösung
verlangten, zum Austrag zu führen. Der Ministerpräsident, Vicomte de San
Vincente, war durchaus unbeliebt; er trat zurück, ehe die Kammersession be¬
gann und wurde durch den Vicomte do Rio Branco ersetzt, dem das allge¬
meine Vertrauen entgegen kam. Abweichend von dem sonst in Brasilien üb¬
lichen Verfahren, wählte er nicht Veteranen in das neue Cabinet, sondern
umgab sich mit jüngeren Kräften der konservativen Partei, die, wenn der
Vergleich erlaubt, wir als „freiconservative Brasilianer" bezeichnen können.
Dieses Cabinet ermöglichte dem Kaiser, Dom Pedro II., zwei lange ge¬
hegte Lieblingswünsche zur Ausführung zu bringen, deren einer persönlicher
Art war. Schon lange hatte der Herrscher des halbcivilisirten Landes, dessen
Wohl und Wehe ihm entschieden am Herzen liegt, über das er seit nun 30
Jahren regiert, Europa besuchen wollen, um dort neue Anregungen sich
zu holen, Institutionen kennen zu lernen, die er mit Vortheil auf. Brasilien
übertragen konnte. Begleitet von der Kaiserin, besuchte er Belgien, Frank¬
reich, Deutschland, die Türkei, Palästina, Italien, und begab sich dann über
Spanien nach Portugal, der Wiege seiner Dynastie, von wo er vor kurzem


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[0129] Brasilien im Jahre 1871. Abgesehen von den Vereinigten Staaten, hat das deutsche Reich zu keinem amerikanischen Stackte so enge Beziehungen wie zu Brasilien. Dort wohnen mindestens 80.000 unserer Landsleute, welche sich das volle Bewußtsein ihres Deutschthums bewahrt haben, und die nicht wenig dazu beitragen, die Han¬ delsbeziehungen zwischen Brasilien und Deutschland immer enger zu gestalten. Der Streit, welchen einige Seeleute des Kriegsschiffes „Nymphe" in Rio de Janeiro hatten, und der vorübergehend zu diplomatischen Erörterungen zwi¬ schen dem neuen Reiche und der amerikanischen Monarchie führte, die Reise des brasilianischen Kaisers durch Europa, endlich die Aufhebung der Neger- sclaverei haben im verflossenen Jahre unser Interesse an Brasilien besonders wach erhalten und es rechtfertigt sich somit, einen Rückblick auf dieses in einer gedeihlichen Entwickelung befindliche Land zu werfen. Das Cabinet, welches beim Beginne des Jahres 1871 an der Spitze des Staates stand, war wegen seiner Nachlässigkeit und Schwäche keineswegs dazu angethan, die wichtigen Fragen der inneren Politik Brasiliens, die eine Lösung verlangten, zum Austrag zu führen. Der Ministerpräsident, Vicomte de San Vincente, war durchaus unbeliebt; er trat zurück, ehe die Kammersession be¬ gann und wurde durch den Vicomte do Rio Branco ersetzt, dem das allge¬ meine Vertrauen entgegen kam. Abweichend von dem sonst in Brasilien üb¬ lichen Verfahren, wählte er nicht Veteranen in das neue Cabinet, sondern umgab sich mit jüngeren Kräften der konservativen Partei, die, wenn der Vergleich erlaubt, wir als „freiconservative Brasilianer" bezeichnen können. Dieses Cabinet ermöglichte dem Kaiser, Dom Pedro II., zwei lange ge¬ hegte Lieblingswünsche zur Ausführung zu bringen, deren einer persönlicher Art war. Schon lange hatte der Herrscher des halbcivilisirten Landes, dessen Wohl und Wehe ihm entschieden am Herzen liegt, über das er seit nun 30 Jahren regiert, Europa besuchen wollen, um dort neue Anregungen sich zu holen, Institutionen kennen zu lernen, die er mit Vortheil auf. Brasilien übertragen konnte. Begleitet von der Kaiserin, besuchte er Belgien, Frank¬ reich, Deutschland, die Türkei, Palästina, Italien, und begab sich dann über Spanien nach Portugal, der Wiege seiner Dynastie, von wo er vor kurzem Grenzboten II. 1872. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/129>, abgerufen am 22.12.2024.