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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Die Mormonen am großen Sahsee.
2. Ihr Glaubensbekenntniß, ihr Priesterthum und ihre Ehegesetze.

Von den alten Secten hat Gott sich abgewandt, und so ist ihr Glaube
steril geworden und seit Jahrhunderten schon derselbe geblieben. Wir da¬
gegen, mit denen Gott täglich verkehrt, erfahren täglich mehr von den himm¬
lischen Geheimnissen, und so ist unsre Lehre steter Veränderung und Erwei¬
terung unterworfen. In dieser Weise erklären die Kirchenlichter der Mor¬
monen die vielfachen Umgestaltungen, die das Glaubensbekenntniß der Secte
im Laufe der Jahre erlitt.

Die Latterday-Saints waren Anfangs im Wesentlichen eine Abart der
chiliastischen Campbelliten-Secte, die sich nur durch ihren Glauben an die
Jndianerbibel vom Berge Cumarah und an die göttliche Sendung Joseph
Smiths von den übrigen Gemeinden derselben unterschied. Allmählig erfand
Smith verschiedene neue Dogmen dazu, und zwar nicht aus religiöser Grü¬
belei, sondern zur Rechtfertigung und Empfehlung bestimmter weltlicher Ab¬
sichten oder gar zur Heiligung unsauberer Gelüste. In der ersten Zeit ver¬
brämte Rigdon diese Dogmen mit Blumen seiner Phantasie, später, unter
Uoung, der jenes Geschäft der Dogmenverfertigung fortsetzte, versuchte Orson
Pratt, der sich in der Geschichte der Philosophie und der Religionen umge¬
sehen, die Erzeugnisse Smiths und Uoungs in ein organisches System zu
bringen und mit allerlei Anklängen an die Gnostiker und Mystiker, an den
Parsismus und das Brahmanenthum, an die Materialisten und dann wunder¬
licher Weise wieder an die Schellingsche Philosophie und gewisse Lehren der Spi-
ritualisten zu verschönern, wovon aber Uoung als rein praktischer Mann nur
das zu seinen Plänen Passende anerkannte, und wofür die Masse der Mor¬
monen schwerlich ein Verständniß hatte. Der Glaube der Secte war in die¬
sen Händen ein Flickwerk aus aller Welt Lappenschublade geworden, ein
Mischmasch aus Heidenthum und Christenthum, in welchem ersteres stark
überwog, voller Widersprüche und ohne andern Grund als jene weltlichen
Zwecke, unter denen die Vielweiberei die erste Stelle einnahm und vorzüglich


Grenzbotc" II. 1871. 111
Die Mormonen am großen Sahsee.
2. Ihr Glaubensbekenntniß, ihr Priesterthum und ihre Ehegesetze.

Von den alten Secten hat Gott sich abgewandt, und so ist ihr Glaube
steril geworden und seit Jahrhunderten schon derselbe geblieben. Wir da¬
gegen, mit denen Gott täglich verkehrt, erfahren täglich mehr von den himm¬
lischen Geheimnissen, und so ist unsre Lehre steter Veränderung und Erwei¬
terung unterworfen. In dieser Weise erklären die Kirchenlichter der Mor¬
monen die vielfachen Umgestaltungen, die das Glaubensbekenntniß der Secte
im Laufe der Jahre erlitt.

Die Latterday-Saints waren Anfangs im Wesentlichen eine Abart der
chiliastischen Campbelliten-Secte, die sich nur durch ihren Glauben an die
Jndianerbibel vom Berge Cumarah und an die göttliche Sendung Joseph
Smiths von den übrigen Gemeinden derselben unterschied. Allmählig erfand
Smith verschiedene neue Dogmen dazu, und zwar nicht aus religiöser Grü¬
belei, sondern zur Rechtfertigung und Empfehlung bestimmter weltlicher Ab¬
sichten oder gar zur Heiligung unsauberer Gelüste. In der ersten Zeit ver¬
brämte Rigdon diese Dogmen mit Blumen seiner Phantasie, später, unter
Uoung, der jenes Geschäft der Dogmenverfertigung fortsetzte, versuchte Orson
Pratt, der sich in der Geschichte der Philosophie und der Religionen umge¬
sehen, die Erzeugnisse Smiths und Uoungs in ein organisches System zu
bringen und mit allerlei Anklängen an die Gnostiker und Mystiker, an den
Parsismus und das Brahmanenthum, an die Materialisten und dann wunder¬
licher Weise wieder an die Schellingsche Philosophie und gewisse Lehren der Spi-
ritualisten zu verschönern, wovon aber Uoung als rein praktischer Mann nur
das zu seinen Plänen Passende anerkannte, und wofür die Masse der Mor¬
monen schwerlich ein Verständniß hatte. Der Glaube der Secte war in die¬
sen Händen ein Flickwerk aus aller Welt Lappenschublade geworden, ein
Mischmasch aus Heidenthum und Christenthum, in welchem ersteres stark
überwog, voller Widersprüche und ohne andern Grund als jene weltlichen
Zwecke, unter denen die Vielweiberei die erste Stelle einnahm und vorzüglich


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[0329] Die Mormonen am großen Sahsee. 2. Ihr Glaubensbekenntniß, ihr Priesterthum und ihre Ehegesetze. Von den alten Secten hat Gott sich abgewandt, und so ist ihr Glaube steril geworden und seit Jahrhunderten schon derselbe geblieben. Wir da¬ gegen, mit denen Gott täglich verkehrt, erfahren täglich mehr von den himm¬ lischen Geheimnissen, und so ist unsre Lehre steter Veränderung und Erwei¬ terung unterworfen. In dieser Weise erklären die Kirchenlichter der Mor¬ monen die vielfachen Umgestaltungen, die das Glaubensbekenntniß der Secte im Laufe der Jahre erlitt. Die Latterday-Saints waren Anfangs im Wesentlichen eine Abart der chiliastischen Campbelliten-Secte, die sich nur durch ihren Glauben an die Jndianerbibel vom Berge Cumarah und an die göttliche Sendung Joseph Smiths von den übrigen Gemeinden derselben unterschied. Allmählig erfand Smith verschiedene neue Dogmen dazu, und zwar nicht aus religiöser Grü¬ belei, sondern zur Rechtfertigung und Empfehlung bestimmter weltlicher Ab¬ sichten oder gar zur Heiligung unsauberer Gelüste. In der ersten Zeit ver¬ brämte Rigdon diese Dogmen mit Blumen seiner Phantasie, später, unter Uoung, der jenes Geschäft der Dogmenverfertigung fortsetzte, versuchte Orson Pratt, der sich in der Geschichte der Philosophie und der Religionen umge¬ sehen, die Erzeugnisse Smiths und Uoungs in ein organisches System zu bringen und mit allerlei Anklängen an die Gnostiker und Mystiker, an den Parsismus und das Brahmanenthum, an die Materialisten und dann wunder¬ licher Weise wieder an die Schellingsche Philosophie und gewisse Lehren der Spi- ritualisten zu verschönern, wovon aber Uoung als rein praktischer Mann nur das zu seinen Plänen Passende anerkannte, und wofür die Masse der Mor¬ monen schwerlich ein Verständniß hatte. Der Glaube der Secte war in die¬ sen Händen ein Flickwerk aus aller Welt Lappenschublade geworden, ein Mischmasch aus Heidenthum und Christenthum, in welchem ersteres stark überwog, voller Widersprüche und ohne andern Grund als jene weltlichen Zwecke, unter denen die Vielweiberei die erste Stelle einnahm und vorzüglich Grenzbotc» II. 1871. 111

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/329>, abgerufen am 05.02.2025.