Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.Iriefe eines Deutschen an einen Schweizer. Zweiter Brief. Alter Freund! So lange eine Nation den natürlichen Ausbau ihres Staates nicht ge¬ Lange aber, bevor wir das eine Reich deutscher Nation wieder aufrich¬ Iriefe eines Deutschen an einen Schweizer. Zweiter Brief. Alter Freund! So lange eine Nation den natürlichen Ausbau ihres Staates nicht ge¬ Lange aber, bevor wir das eine Reich deutscher Nation wieder aufrich¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0078" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125860"/> </div> <div n="1"> <head> Iriefe eines Deutschen an einen Schweizer.<lb/> Zweiter Brief.</head><lb/> <note type="salute"> Alter Freund!</note><lb/> <p xml:id="ID_233"> So lange eine Nation den natürlichen Ausbau ihres Staates nicht ge¬<lb/> wonnen hat, sucht sie begierig nach Beispielen glücklicherer Völker, um ihr eigenes<lb/> nationales Streben anzufeuern. Lange Jahre hindurch ist uns die Schweizer<lb/> Bundesverfassung Vorbild für unsere nationalen Hoffnungen gewesen; diese<lb/> Verfassung, in's Monarchische übersetzt, war in den stillen reactionären Jahren<lb/> nach 1848 das verschwiegene Ideal nicht der schlechtesten deutschen Patrio¬<lb/> ten, namentlich für die „freiheitlichen Forderungen" der deutschen Nation.<lb/> Andere, die „weiter links" standen, glaubten in den „Grundrechten" der deut¬<lb/> schen Reichsverfassung die höchste politische Weisheit für Deutschland gefunden,<lb/> mit ihrer Verwirklichung sofort die deutsche Frage gelöst, den deutschen Staat<lb/> begründet. Daß wir diese beiden Phrasen im heutigen Deutschland losgewor¬<lb/> den sind, ist ein gutes Zeichen für die Entwickelung des politischen Sinnes<lb/> in Deutschland seit 1866. Die „Grundrechte" nämlich, wie die Schweizer<lb/> Bundesverfassung, haben das Gemeinsame, daß sie eine gewisse papierne Frei¬<lb/> heit ohne Macht darstellen, während uns vor Allem die Macht, die staatliche<lb/> Einheit, noth that, und man dem ungebrochenen angeborenen Freiheitssinn<lb/> des Deutschen vertrauen durfte, sich das nöthige weite Maß von Freiheit zu<lb/> schaffen, sobald sein Vaterland auf fester Grundlage ruhte. Heutzutage stehen<lb/> wir, Gottlob!, aus dem Standpunkte fertiger Völker; wir halten nicht mehr<lb/> die Verfassungen anderer Nationen für die Vorbilder unserer nationalen Be¬<lb/> strebungen, wir vergleichen vielmehr unser Staatsgrundgesetz den Verfassungen<lb/> anderer Völker.</p><lb/> <p xml:id="ID_234" next="#ID_235"> Lange aber, bevor wir das eine Reich deutscher Nation wieder aufrich¬<lb/> teten, sind wir von der Bewunderung des schweizerischen Staatsrechts sehr<lb/> ernüchtert zurückgekommen. Schon im Norddeutschen Bunde standen wir der<lb/> Schweiz gegenüber in dem berechtigten Gefühle der Ueberlegenheit in Allem,<lb/> was die persönliche und politische Unabhängigkeit unserer Bundesbehörden,<lb/> die Thatkraft unserer Bundesgesetzgebung, die rasche und sichere Förderung<lb/> unserer staatlichen und wirthschaftlichen Freiheiten anlangt. Im deutschen<lb/> Reich vollends, durch die Vereinigung aller reindeutschen Staaten in einen<lb/> Bundesstaat, haben wir das einstige Vorbild weit überholt — auch in Hin¬<lb/> sicht der Freiheit, ja nicht am wenigsten in dieser. Ich höre schon deutlich<lb/> das Hohngelächter, mit dem der radicale Pöbel Deiner Landsleute diese Worte<lb/> aufnimmt und verbreitet. Aber ihr braucht nur einen Blick in unsere beider¬<lb/> seitigen Verfassungen und Gesetzgebungswerke zu werfen, um zu erkennen, wie</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0078]
Iriefe eines Deutschen an einen Schweizer.
Zweiter Brief.
Alter Freund!
So lange eine Nation den natürlichen Ausbau ihres Staates nicht ge¬
wonnen hat, sucht sie begierig nach Beispielen glücklicherer Völker, um ihr eigenes
nationales Streben anzufeuern. Lange Jahre hindurch ist uns die Schweizer
Bundesverfassung Vorbild für unsere nationalen Hoffnungen gewesen; diese
Verfassung, in's Monarchische übersetzt, war in den stillen reactionären Jahren
nach 1848 das verschwiegene Ideal nicht der schlechtesten deutschen Patrio¬
ten, namentlich für die „freiheitlichen Forderungen" der deutschen Nation.
Andere, die „weiter links" standen, glaubten in den „Grundrechten" der deut¬
schen Reichsverfassung die höchste politische Weisheit für Deutschland gefunden,
mit ihrer Verwirklichung sofort die deutsche Frage gelöst, den deutschen Staat
begründet. Daß wir diese beiden Phrasen im heutigen Deutschland losgewor¬
den sind, ist ein gutes Zeichen für die Entwickelung des politischen Sinnes
in Deutschland seit 1866. Die „Grundrechte" nämlich, wie die Schweizer
Bundesverfassung, haben das Gemeinsame, daß sie eine gewisse papierne Frei¬
heit ohne Macht darstellen, während uns vor Allem die Macht, die staatliche
Einheit, noth that, und man dem ungebrochenen angeborenen Freiheitssinn
des Deutschen vertrauen durfte, sich das nöthige weite Maß von Freiheit zu
schaffen, sobald sein Vaterland auf fester Grundlage ruhte. Heutzutage stehen
wir, Gottlob!, aus dem Standpunkte fertiger Völker; wir halten nicht mehr
die Verfassungen anderer Nationen für die Vorbilder unserer nationalen Be¬
strebungen, wir vergleichen vielmehr unser Staatsgrundgesetz den Verfassungen
anderer Völker.
Lange aber, bevor wir das eine Reich deutscher Nation wieder aufrich¬
teten, sind wir von der Bewunderung des schweizerischen Staatsrechts sehr
ernüchtert zurückgekommen. Schon im Norddeutschen Bunde standen wir der
Schweiz gegenüber in dem berechtigten Gefühle der Ueberlegenheit in Allem,
was die persönliche und politische Unabhängigkeit unserer Bundesbehörden,
die Thatkraft unserer Bundesgesetzgebung, die rasche und sichere Förderung
unserer staatlichen und wirthschaftlichen Freiheiten anlangt. Im deutschen
Reich vollends, durch die Vereinigung aller reindeutschen Staaten in einen
Bundesstaat, haben wir das einstige Vorbild weit überholt — auch in Hin¬
sicht der Freiheit, ja nicht am wenigsten in dieser. Ich höre schon deutlich
das Hohngelächter, mit dem der radicale Pöbel Deiner Landsleute diese Worte
aufnimmt und verbreitet. Aber ihr braucht nur einen Blick in unsere beider¬
seitigen Verfassungen und Gesetzgebungswerke zu werfen, um zu erkennen, wie
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