Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

denn die Erscheinungen des Himmels bedingen ja, wie wir schon ange¬
deutet, vornehmlich auch durch den wechselnden Wind, die Jahreszeiten.

Wodan hat freilich noch eine Reihe anderer göttlicher Vorsteherherrschasten
übernommen; als Allvater, d. h. als Fürst der Götter, als Walvater,
d. h. als Schlachtengott, als Erfinder der Runen und Vater der
Dichtkunst, als Wunsch gott, d. h. als Verleiher aller guten und voll¬
kommenen Gabe; am bedeutungsvollsten aber und den innersten Kern seines
Mythus bildend, erscheint doch Wodan als Jahresgott.

Weihnachts-Wodan.

Das Jahr der alten Deutschen begann etwas früher und zu einem viel
passenderen Zeitpunkte als das unsrige, dessen Beginn sehr willkürlich von
den Römern festgestellt und höchst unbegründet von uns übernommen
worden ist.

Das altdeutsche Jahr fing nämlich mit dem Wintersolstitium an,
d. h. zu jener Zeit, in welcher die Sonne auf ihrem tiefsten Standpunkt
stillzustehn und auszuruhen scheint, bevor sie ihre aufwärts gewendete und
nun von Tag zu Tag wieder wachsende neue Laufbahn beginnt. Winter¬
sonnenwende also war Jahresanfang. --

Das Leben des Jahres ist aber dasselbe, wie das Leben der Sonne;
es ist ihre Erneuerung, ihr Wachsthum, ihr Sieg über die Nacht und den
Winter, ihre fröhliche früchtereiche Herrschaft, ihr Ermatten und das Nach¬
lassen der Tageslänge, ja ihr allmähliches Absterben und endliches Begraben¬
werden in der Nacht des Winters. Alles das spiegelt sich denn auch im
altdeutschen Mythus und verschwistert sich aufs Innigste mit den wechselnden
Gestaltungen des Luftlebens zu einer organischen Gemeinschaft. Diese aber
ordnet sich um den Himmelskönig Wodan, der als solcher nicht nur
Sturmgott, fondern auch Herr der Sonne ist, und den die uralte Sage
daher auch als einäugig darstellt, weil ja der Himmel nur eine Sonne, nur ein
Auge hat. Daneben kommt indeß auch die Bedeutung Wodan's als Sturm¬
gott nicht zu kurz; bald tritt jene, bald diese Seite seines Wesens in den
Vordergrund, und es ist ein Zug tiefsten Verständnisses für das Leben der
Natur, daß unsere Altvordern Sturm und Licht Hand in Hand gehn lassen,
daß ihnen das Licht im Sturm geboren wird, im Sturme wieder
untergeht.

Der Jahresbeginn, die Frist des Solstitiums, des Ausruhens der Sonne
war die hochheilige Jul-Zeit, Weihenächte, Weihnachten, und weil der
Weihnächte zwölfe waren, nämlich von unserem Weihnachtsabend bis zum
Dreikönigstage, so nannte man diese vornehmste Festperiode des Alterthums
auch einfach: "die Zwölften". Um diese Zeit erwachte nach des Volkes


denn die Erscheinungen des Himmels bedingen ja, wie wir schon ange¬
deutet, vornehmlich auch durch den wechselnden Wind, die Jahreszeiten.

Wodan hat freilich noch eine Reihe anderer göttlicher Vorsteherherrschasten
übernommen; als Allvater, d. h. als Fürst der Götter, als Walvater,
d. h. als Schlachtengott, als Erfinder der Runen und Vater der
Dichtkunst, als Wunsch gott, d. h. als Verleiher aller guten und voll¬
kommenen Gabe; am bedeutungsvollsten aber und den innersten Kern seines
Mythus bildend, erscheint doch Wodan als Jahresgott.

Weihnachts-Wodan.

Das Jahr der alten Deutschen begann etwas früher und zu einem viel
passenderen Zeitpunkte als das unsrige, dessen Beginn sehr willkürlich von
den Römern festgestellt und höchst unbegründet von uns übernommen
worden ist.

Das altdeutsche Jahr fing nämlich mit dem Wintersolstitium an,
d. h. zu jener Zeit, in welcher die Sonne auf ihrem tiefsten Standpunkt
stillzustehn und auszuruhen scheint, bevor sie ihre aufwärts gewendete und
nun von Tag zu Tag wieder wachsende neue Laufbahn beginnt. Winter¬
sonnenwende also war Jahresanfang. —

Das Leben des Jahres ist aber dasselbe, wie das Leben der Sonne;
es ist ihre Erneuerung, ihr Wachsthum, ihr Sieg über die Nacht und den
Winter, ihre fröhliche früchtereiche Herrschaft, ihr Ermatten und das Nach¬
lassen der Tageslänge, ja ihr allmähliches Absterben und endliches Begraben¬
werden in der Nacht des Winters. Alles das spiegelt sich denn auch im
altdeutschen Mythus und verschwistert sich aufs Innigste mit den wechselnden
Gestaltungen des Luftlebens zu einer organischen Gemeinschaft. Diese aber
ordnet sich um den Himmelskönig Wodan, der als solcher nicht nur
Sturmgott, fondern auch Herr der Sonne ist, und den die uralte Sage
daher auch als einäugig darstellt, weil ja der Himmel nur eine Sonne, nur ein
Auge hat. Daneben kommt indeß auch die Bedeutung Wodan's als Sturm¬
gott nicht zu kurz; bald tritt jene, bald diese Seite seines Wesens in den
Vordergrund, und es ist ein Zug tiefsten Verständnisses für das Leben der
Natur, daß unsere Altvordern Sturm und Licht Hand in Hand gehn lassen,
daß ihnen das Licht im Sturm geboren wird, im Sturme wieder
untergeht.

Der Jahresbeginn, die Frist des Solstitiums, des Ausruhens der Sonne
war die hochheilige Jul-Zeit, Weihenächte, Weihnachten, und weil der
Weihnächte zwölfe waren, nämlich von unserem Weihnachtsabend bis zum
Dreikönigstage, so nannte man diese vornehmste Festperiode des Alterthums
auch einfach: „die Zwölften". Um diese Zeit erwachte nach des Volkes


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0176" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125420"/>
          <p xml:id="ID_620" prev="#ID_619"> denn die Erscheinungen des Himmels bedingen ja, wie wir schon ange¬<lb/>
deutet, vornehmlich auch durch den wechselnden Wind, die Jahreszeiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_621"> Wodan hat freilich noch eine Reihe anderer göttlicher Vorsteherherrschasten<lb/>
übernommen; als Allvater, d. h. als Fürst der Götter, als Walvater,<lb/>
d. h. als Schlachtengott, als Erfinder der Runen und Vater der<lb/>
Dichtkunst, als Wunsch gott, d. h. als Verleiher aller guten und voll¬<lb/>
kommenen Gabe; am bedeutungsvollsten aber und den innersten Kern seines<lb/>
Mythus bildend, erscheint doch Wodan als Jahresgott.</p><lb/>
          <div n="2">
            <head> Weihnachts-Wodan.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_622"> Das Jahr der alten Deutschen begann etwas früher und zu einem viel<lb/>
passenderen Zeitpunkte als das unsrige, dessen Beginn sehr willkürlich von<lb/>
den Römern festgestellt und höchst unbegründet von uns übernommen<lb/>
worden ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_623"> Das altdeutsche Jahr fing nämlich mit dem Wintersolstitium an,<lb/>
d. h. zu jener Zeit, in welcher die Sonne auf ihrem tiefsten Standpunkt<lb/>
stillzustehn und auszuruhen scheint, bevor sie ihre aufwärts gewendete und<lb/>
nun von Tag zu Tag wieder wachsende neue Laufbahn beginnt. Winter¬<lb/>
sonnenwende also war Jahresanfang. &#x2014;</p><lb/>
            <p xml:id="ID_624"> Das Leben des Jahres ist aber dasselbe, wie das Leben der Sonne;<lb/>
es ist ihre Erneuerung, ihr Wachsthum, ihr Sieg über die Nacht und den<lb/>
Winter, ihre fröhliche früchtereiche Herrschaft, ihr Ermatten und das Nach¬<lb/>
lassen der Tageslänge, ja ihr allmähliches Absterben und endliches Begraben¬<lb/>
werden in der Nacht des Winters. Alles das spiegelt sich denn auch im<lb/>
altdeutschen Mythus und verschwistert sich aufs Innigste mit den wechselnden<lb/>
Gestaltungen des Luftlebens zu einer organischen Gemeinschaft. Diese aber<lb/>
ordnet sich um den Himmelskönig Wodan, der als solcher nicht nur<lb/>
Sturmgott, fondern auch Herr der Sonne ist, und den die uralte Sage<lb/>
daher auch als einäugig darstellt, weil ja der Himmel nur eine Sonne, nur ein<lb/>
Auge hat. Daneben kommt indeß auch die Bedeutung Wodan's als Sturm¬<lb/>
gott nicht zu kurz; bald tritt jene, bald diese Seite seines Wesens in den<lb/>
Vordergrund, und es ist ein Zug tiefsten Verständnisses für das Leben der<lb/>
Natur, daß unsere Altvordern Sturm und Licht Hand in Hand gehn lassen,<lb/>
daß ihnen das Licht im Sturm geboren wird, im Sturme wieder<lb/>
untergeht.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_625" next="#ID_626"> Der Jahresbeginn, die Frist des Solstitiums, des Ausruhens der Sonne<lb/>
war die hochheilige Jul-Zeit, Weihenächte, Weihnachten, und weil der<lb/>
Weihnächte zwölfe waren, nämlich von unserem Weihnachtsabend bis zum<lb/>
Dreikönigstage, so nannte man diese vornehmste Festperiode des Alterthums<lb/>
auch einfach: &#x201E;die Zwölften". Um diese Zeit erwachte nach des Volkes</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0176] denn die Erscheinungen des Himmels bedingen ja, wie wir schon ange¬ deutet, vornehmlich auch durch den wechselnden Wind, die Jahreszeiten. Wodan hat freilich noch eine Reihe anderer göttlicher Vorsteherherrschasten übernommen; als Allvater, d. h. als Fürst der Götter, als Walvater, d. h. als Schlachtengott, als Erfinder der Runen und Vater der Dichtkunst, als Wunsch gott, d. h. als Verleiher aller guten und voll¬ kommenen Gabe; am bedeutungsvollsten aber und den innersten Kern seines Mythus bildend, erscheint doch Wodan als Jahresgott. Weihnachts-Wodan. Das Jahr der alten Deutschen begann etwas früher und zu einem viel passenderen Zeitpunkte als das unsrige, dessen Beginn sehr willkürlich von den Römern festgestellt und höchst unbegründet von uns übernommen worden ist. Das altdeutsche Jahr fing nämlich mit dem Wintersolstitium an, d. h. zu jener Zeit, in welcher die Sonne auf ihrem tiefsten Standpunkt stillzustehn und auszuruhen scheint, bevor sie ihre aufwärts gewendete und nun von Tag zu Tag wieder wachsende neue Laufbahn beginnt. Winter¬ sonnenwende also war Jahresanfang. — Das Leben des Jahres ist aber dasselbe, wie das Leben der Sonne; es ist ihre Erneuerung, ihr Wachsthum, ihr Sieg über die Nacht und den Winter, ihre fröhliche früchtereiche Herrschaft, ihr Ermatten und das Nach¬ lassen der Tageslänge, ja ihr allmähliches Absterben und endliches Begraben¬ werden in der Nacht des Winters. Alles das spiegelt sich denn auch im altdeutschen Mythus und verschwistert sich aufs Innigste mit den wechselnden Gestaltungen des Luftlebens zu einer organischen Gemeinschaft. Diese aber ordnet sich um den Himmelskönig Wodan, der als solcher nicht nur Sturmgott, fondern auch Herr der Sonne ist, und den die uralte Sage daher auch als einäugig darstellt, weil ja der Himmel nur eine Sonne, nur ein Auge hat. Daneben kommt indeß auch die Bedeutung Wodan's als Sturm¬ gott nicht zu kurz; bald tritt jene, bald diese Seite seines Wesens in den Vordergrund, und es ist ein Zug tiefsten Verständnisses für das Leben der Natur, daß unsere Altvordern Sturm und Licht Hand in Hand gehn lassen, daß ihnen das Licht im Sturm geboren wird, im Sturme wieder untergeht. Der Jahresbeginn, die Frist des Solstitiums, des Ausruhens der Sonne war die hochheilige Jul-Zeit, Weihenächte, Weihnachten, und weil der Weihnächte zwölfe waren, nämlich von unserem Weihnachtsabend bis zum Dreikönigstage, so nannte man diese vornehmste Festperiode des Alterthums auch einfach: „die Zwölften". Um diese Zeit erwachte nach des Volkes

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/176
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/176>, abgerufen am 28.06.2024.