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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Die Handelsinteressen im norddeutschen Sunde.

Nach deutscher Sitte stellt der Vater die Kinder im Jahre einmal an
den Thürpfosten und zeichnet ihre Größe an, um sich und den Kindern ihr
Wachsthum vor Augen zu halten. So könnte auch der norddeutsche in
Gedanken mit dem Kinde seiner Wünsche, dem werdenden deutschen Staat
verfahren und Jahr für Jahr das schnelle und sichere Gedeihen in der zurück¬
gelegten Zeitfrist beobachten. Jedes Jahr hat stetige, ja unerwartete Fort¬
schritte gebracht und der Augenblick ist noch nicht abzusehen, wo dies Werden
und Wachsen sein naturgemäßes Ende findet. Erst gegenwärtig wird klar
bewußt, wie viel wir Deutsche auf allen Gebieten des Staatslebens ent>
Kehrten, wie viel wir bedürfen, wie viel Gesetze und Einrichtungen noch
nöthig sind, wenn das nationale Gemeinwesen nicht nur Sicherheit nach außen,
sondern Wohnlichkeit und Brauchbarkeit im Innern bieten soll.

In dieser Zeit reger Entwickelung ist den Wünschen eine besondere
Richtung gewiesen. Wie immer kann und soll der rastlose Sinn der Wirk¬
lichkeit vorauseilen und die Bahnen suchen, auf welchen sich die Fortent¬
wickelung vollzieht. Allein falsch wäre es, Wünsche zu hegen, die nach dem
Gange der Dinge zur Zeit unerfüllbar oder entbehrlich sind, die nicht eine
Art Naturnothwendigkeit in sich tragen. Ob der Wunsch, dem wir Aus¬
druck geben wollen, von solcher Beschaffenheit ist, mag der Leser entscheiden.
Jedenfalls wird er, hoffen wir, kein müßiger Wunsch sein.

Von Gründung des Bundes an hat der Bnndesorganismus die Auf¬
merksamkeit auf sich gezogen und zu vielem Für und Wider Veranlassung
gegeben. Die Einen lobten die ungekannt rasche Arbeit der Maschine, ihre
Leichtigkeit und Sicherheit, ihre Einfachheit und Anspruchslosigkeit. Die An¬
deren tadelten die Ungewöhnlichkeit und Unerprobtheit der Construction und
leiteten daraus Besorgnisse für den Bund selbst her. Die Besorgnisse haben
sich zur Stunde nicht begründet erwiesen, aber auch die Lobreden lassen sich
nicht mehr mit jenem ersten Schwung vernehmen. Es herrscht die Ueber¬
zeugung, daß im Bundesorganismus Fortbildungsfähigkeit und Fortbildungs-


Grcrijboten I. 1870. 51
Die Handelsinteressen im norddeutschen Sunde.

Nach deutscher Sitte stellt der Vater die Kinder im Jahre einmal an
den Thürpfosten und zeichnet ihre Größe an, um sich und den Kindern ihr
Wachsthum vor Augen zu halten. So könnte auch der norddeutsche in
Gedanken mit dem Kinde seiner Wünsche, dem werdenden deutschen Staat
verfahren und Jahr für Jahr das schnelle und sichere Gedeihen in der zurück¬
gelegten Zeitfrist beobachten. Jedes Jahr hat stetige, ja unerwartete Fort¬
schritte gebracht und der Augenblick ist noch nicht abzusehen, wo dies Werden
und Wachsen sein naturgemäßes Ende findet. Erst gegenwärtig wird klar
bewußt, wie viel wir Deutsche auf allen Gebieten des Staatslebens ent>
Kehrten, wie viel wir bedürfen, wie viel Gesetze und Einrichtungen noch
nöthig sind, wenn das nationale Gemeinwesen nicht nur Sicherheit nach außen,
sondern Wohnlichkeit und Brauchbarkeit im Innern bieten soll.

In dieser Zeit reger Entwickelung ist den Wünschen eine besondere
Richtung gewiesen. Wie immer kann und soll der rastlose Sinn der Wirk¬
lichkeit vorauseilen und die Bahnen suchen, auf welchen sich die Fortent¬
wickelung vollzieht. Allein falsch wäre es, Wünsche zu hegen, die nach dem
Gange der Dinge zur Zeit unerfüllbar oder entbehrlich sind, die nicht eine
Art Naturnothwendigkeit in sich tragen. Ob der Wunsch, dem wir Aus¬
druck geben wollen, von solcher Beschaffenheit ist, mag der Leser entscheiden.
Jedenfalls wird er, hoffen wir, kein müßiger Wunsch sein.

Von Gründung des Bundes an hat der Bnndesorganismus die Auf¬
merksamkeit auf sich gezogen und zu vielem Für und Wider Veranlassung
gegeben. Die Einen lobten die ungekannt rasche Arbeit der Maschine, ihre
Leichtigkeit und Sicherheit, ihre Einfachheit und Anspruchslosigkeit. Die An¬
deren tadelten die Ungewöhnlichkeit und Unerprobtheit der Construction und
leiteten daraus Besorgnisse für den Bund selbst her. Die Besorgnisse haben
sich zur Stunde nicht begründet erwiesen, aber auch die Lobreden lassen sich
nicht mehr mit jenem ersten Schwung vernehmen. Es herrscht die Ueber¬
zeugung, daß im Bundesorganismus Fortbildungsfähigkeit und Fortbildungs-


Grcrijboten I. 1870. 51
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[0407] Die Handelsinteressen im norddeutschen Sunde. Nach deutscher Sitte stellt der Vater die Kinder im Jahre einmal an den Thürpfosten und zeichnet ihre Größe an, um sich und den Kindern ihr Wachsthum vor Augen zu halten. So könnte auch der norddeutsche in Gedanken mit dem Kinde seiner Wünsche, dem werdenden deutschen Staat verfahren und Jahr für Jahr das schnelle und sichere Gedeihen in der zurück¬ gelegten Zeitfrist beobachten. Jedes Jahr hat stetige, ja unerwartete Fort¬ schritte gebracht und der Augenblick ist noch nicht abzusehen, wo dies Werden und Wachsen sein naturgemäßes Ende findet. Erst gegenwärtig wird klar bewußt, wie viel wir Deutsche auf allen Gebieten des Staatslebens ent> Kehrten, wie viel wir bedürfen, wie viel Gesetze und Einrichtungen noch nöthig sind, wenn das nationale Gemeinwesen nicht nur Sicherheit nach außen, sondern Wohnlichkeit und Brauchbarkeit im Innern bieten soll. In dieser Zeit reger Entwickelung ist den Wünschen eine besondere Richtung gewiesen. Wie immer kann und soll der rastlose Sinn der Wirk¬ lichkeit vorauseilen und die Bahnen suchen, auf welchen sich die Fortent¬ wickelung vollzieht. Allein falsch wäre es, Wünsche zu hegen, die nach dem Gange der Dinge zur Zeit unerfüllbar oder entbehrlich sind, die nicht eine Art Naturnothwendigkeit in sich tragen. Ob der Wunsch, dem wir Aus¬ druck geben wollen, von solcher Beschaffenheit ist, mag der Leser entscheiden. Jedenfalls wird er, hoffen wir, kein müßiger Wunsch sein. Von Gründung des Bundes an hat der Bnndesorganismus die Auf¬ merksamkeit auf sich gezogen und zu vielem Für und Wider Veranlassung gegeben. Die Einen lobten die ungekannt rasche Arbeit der Maschine, ihre Leichtigkeit und Sicherheit, ihre Einfachheit und Anspruchslosigkeit. Die An¬ deren tadelten die Ungewöhnlichkeit und Unerprobtheit der Construction und leiteten daraus Besorgnisse für den Bund selbst her. Die Besorgnisse haben sich zur Stunde nicht begründet erwiesen, aber auch die Lobreden lassen sich nicht mehr mit jenem ersten Schwung vernehmen. Es herrscht die Ueber¬ zeugung, daß im Bundesorganismus Fortbildungsfähigkeit und Fortbildungs- Grcrijboten I. 1870. 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/407>, abgerufen am 26.06.2024.