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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Die Züricher Volksbewegung und die neue Züricher Verfassung.
K orrespondenz

Wir haben in unserer letzten Correspondenz von dem Vorrechte der
Schweiz zu politischen Versuchen gesprochen. Ein solcher Versuch und zwar
in kühnen Verhältnissen ist nun die aus der Volksbewegung vom Spätjahr 1867
bis zum Frühjahr 1869 hervorgegangene neue Verfassung des Cantons
Zürich. Durch Einführung des Referendums und der "Initiative", welche seither
unter dem Namen der Volksgesetzgebung zu einem Losungsworte unserer De¬
mokraten xg.r tZxeollenoo geworden war, hat sie einen Schritt in ein bisher
unbekanntes Land gethan. Zur Stunde noch wird namentlich das Referendum
von den einen als eine konservative, den Fortschritt eher hindernde als för¬
dernde, von anderen als eine extrem radicale, jegliche geordnete Entwickelung
bedrohende Institution angesehen. Hat auch die erstgenannte Einrichtung in
drei wenig hervorragenden Cantonen schon bestanden, so sind sie für einen
materiell, intellectuell und politisch so weit vorgeschrittenen Canton wie
Zürich jedenfalls von ganz anderer Beweiskraft. Die Volksinitiative aber
ist etwas, von dessen Wirkungen man wenigstens in den größeren Cantonen
bisher keine praktischen Erfahrungen besitzt. Die übrigen wesentlichen Neue¬
rungen in der Verfassung sind theils aus ächt liberalem Geiste in bestem
Sinne des Wortes hervorgegangen, theils tragen sie das Gepräge dema¬
gogischer Versprechungen. Das Ganze ist eine sehr .heterogene Mischung,
über deren Gebrechen und Vorzüge eine nicht sehr ferne Zeit richten wird.

Die Bedeutung dieser neuen politischen Richtung für die Schweiz im
Allgemeinen haben wir in unserem früheren Artikel (vergl. Ur. 30) mit
einer Schrift des Herrn Tallichet in der Hand erörtert. Auch indem wir
hier auf den Ursprung und die Geschichte der Volksbewegung eingehen, aus
der das neue Verfassungswerk Zürichs entstanden ist, geschieht es im An¬
schluß an denselben Autor*), den einzigen bisherigen Geschichtsschreiber jener
Bewegung. Da indeß seine Darstellung nur bis zur ersten Lesung der Ver-



*) lallionot, I". ol'iso Miti<iuo alias !<z OMtou ÄL Mriotl. LivliotK. unio. 1869.
Grenzboten III. 1869. 31
Die Züricher Volksbewegung und die neue Züricher Verfassung.
K orrespondenz

Wir haben in unserer letzten Correspondenz von dem Vorrechte der
Schweiz zu politischen Versuchen gesprochen. Ein solcher Versuch und zwar
in kühnen Verhältnissen ist nun die aus der Volksbewegung vom Spätjahr 1867
bis zum Frühjahr 1869 hervorgegangene neue Verfassung des Cantons
Zürich. Durch Einführung des Referendums und der „Initiative", welche seither
unter dem Namen der Volksgesetzgebung zu einem Losungsworte unserer De¬
mokraten xg.r tZxeollenoo geworden war, hat sie einen Schritt in ein bisher
unbekanntes Land gethan. Zur Stunde noch wird namentlich das Referendum
von den einen als eine konservative, den Fortschritt eher hindernde als för¬
dernde, von anderen als eine extrem radicale, jegliche geordnete Entwickelung
bedrohende Institution angesehen. Hat auch die erstgenannte Einrichtung in
drei wenig hervorragenden Cantonen schon bestanden, so sind sie für einen
materiell, intellectuell und politisch so weit vorgeschrittenen Canton wie
Zürich jedenfalls von ganz anderer Beweiskraft. Die Volksinitiative aber
ist etwas, von dessen Wirkungen man wenigstens in den größeren Cantonen
bisher keine praktischen Erfahrungen besitzt. Die übrigen wesentlichen Neue¬
rungen in der Verfassung sind theils aus ächt liberalem Geiste in bestem
Sinne des Wortes hervorgegangen, theils tragen sie das Gepräge dema¬
gogischer Versprechungen. Das Ganze ist eine sehr .heterogene Mischung,
über deren Gebrechen und Vorzüge eine nicht sehr ferne Zeit richten wird.

Die Bedeutung dieser neuen politischen Richtung für die Schweiz im
Allgemeinen haben wir in unserem früheren Artikel (vergl. Ur. 30) mit
einer Schrift des Herrn Tallichet in der Hand erörtert. Auch indem wir
hier auf den Ursprung und die Geschichte der Volksbewegung eingehen, aus
der das neue Verfassungswerk Zürichs entstanden ist, geschieht es im An¬
schluß an denselben Autor*), den einzigen bisherigen Geschichtsschreiber jener
Bewegung. Da indeß seine Darstellung nur bis zur ersten Lesung der Ver-



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[0249] Die Züricher Volksbewegung und die neue Züricher Verfassung. K orrespondenz Wir haben in unserer letzten Correspondenz von dem Vorrechte der Schweiz zu politischen Versuchen gesprochen. Ein solcher Versuch und zwar in kühnen Verhältnissen ist nun die aus der Volksbewegung vom Spätjahr 1867 bis zum Frühjahr 1869 hervorgegangene neue Verfassung des Cantons Zürich. Durch Einführung des Referendums und der „Initiative", welche seither unter dem Namen der Volksgesetzgebung zu einem Losungsworte unserer De¬ mokraten xg.r tZxeollenoo geworden war, hat sie einen Schritt in ein bisher unbekanntes Land gethan. Zur Stunde noch wird namentlich das Referendum von den einen als eine konservative, den Fortschritt eher hindernde als för¬ dernde, von anderen als eine extrem radicale, jegliche geordnete Entwickelung bedrohende Institution angesehen. Hat auch die erstgenannte Einrichtung in drei wenig hervorragenden Cantonen schon bestanden, so sind sie für einen materiell, intellectuell und politisch so weit vorgeschrittenen Canton wie Zürich jedenfalls von ganz anderer Beweiskraft. Die Volksinitiative aber ist etwas, von dessen Wirkungen man wenigstens in den größeren Cantonen bisher keine praktischen Erfahrungen besitzt. Die übrigen wesentlichen Neue¬ rungen in der Verfassung sind theils aus ächt liberalem Geiste in bestem Sinne des Wortes hervorgegangen, theils tragen sie das Gepräge dema¬ gogischer Versprechungen. Das Ganze ist eine sehr .heterogene Mischung, über deren Gebrechen und Vorzüge eine nicht sehr ferne Zeit richten wird. Die Bedeutung dieser neuen politischen Richtung für die Schweiz im Allgemeinen haben wir in unserem früheren Artikel (vergl. Ur. 30) mit einer Schrift des Herrn Tallichet in der Hand erörtert. Auch indem wir hier auf den Ursprung und die Geschichte der Volksbewegung eingehen, aus der das neue Verfassungswerk Zürichs entstanden ist, geschieht es im An¬ schluß an denselben Autor*), den einzigen bisherigen Geschichtsschreiber jener Bewegung. Da indeß seine Darstellung nur bis zur ersten Lesung der Ver- *) lallionot, I». ol'iso Miti<iuo alias !<z OMtou ÄL Mriotl. LivliotK. unio. 1869. Grenzboten III. 1869. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/249>, abgerufen am 22.07.2024.