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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Corresponden? aus Deutsch^Oestreich.

In den Wochen, welche dem Schluß des Reichstags vorhergingen, ist
von nichts so viel die Rede gewesen, wie von einer bevorstehenden Ver-
fassungsrevision. Auf den Gedanken an diese "Revision" wird man über kurz
oder lang, auch wieder zurückkommen, und daß auch diese nicht die letzte sein
wird, dafür bürgt -- unsere Verfassungstreue, Von zwei verschiedenen Sei¬
ten wurde sturmgelaufen gegen die Ordnung der "cisleithanischen" Dinge,
welche durch die Gesetze vom 21. Decbr. 1867 hergestellt worden ist; die
Deutschen verlangten eine andere Zusammensetzung der Reichsvertretung, die
Polen eine größere Selbständigkeit des Landes Galizien. Eine nicht un¬
bedeutende Fraction des Landesministeriums hätte, wie die Blätter aus¬
plauderten, am liebsten jedes Zugeständnis; verweigert, ließ sich aber doch über¬
zeugen, daß ein Reformministerium sich nicht einfach ablehnend gegen jede
Reform stellen könne, und so ist ein Compromiß möglich geblieben. Der For¬
derung der Deutschen soll nachgegeben werden -- aber bei Leibe nicht in
ihrem ganzen Umfange. Ein Abgeordnetenhaus von 203 Mitgliedern bei
einer Bevölkerung von beiläufig 20 Millionen, mithin ein Vertreter für
100,000 Seelen, kann allerdings nicht als ein richtiges Verhältniß angesehen
werden (in dem benachbarten Bayern kommt beispielsweise ein Abgeordneter
auf ungefähr 36,000 Seelen), und die Beschickung des Reichsrathes durch
die Landtage und aus denselben ist vollends ebenso ungerecht als unpraktisch.
Es lag die Absicht vor, die Mitgliederzahl des Abgeordnetenhauses zu ver¬
doppeln oder doch um die Hälfte zu verstärken und den Landtagen frei¬
zustellen, ob sie ihr Wahlrecht ausüben oder auf dasselbe zu Gunsten directer
Wahlen verzichten wollen. Wird dieser Plan wieder aufgenommen, so wird
der Reichsrath ein noch weit monströseres Geschöpf, als es gegenwärtig ist.

Es wird nämlich vorausgesetzt, daß die Landtage von Niederöstreich,
dessen Vertretung in dieser Frage die Initiative ergriffen hat, Oberöstreich,
Steiermark, Salzburg zuverlässig, Mähren, Kärnthen. Krain vielleicht sich,
wenn es zur Entscheidung kommt, für die directe Wahl erklären würden;
sehr zweifelhaft ist es bei Böhmen und Galizien; die deutsche Mehrheit in
dem einen und die polnische in dem anderen Landtage wird kaum geneigt
sein, auf die Vortheile, welche die alten Wahlordnungen ihnen als den in¬
telligenteren und besitzenden einräumten, zu Gunsten der tschechischen und
ruthenischen Masse zu verzichten und in gar keinem Falle werden die geist¬
lichen Führer der Landesvertretung von Tirol ihre jetzt so angenehme und
sichere Position jemals freiwillig aufgeben. So würde möglicherweise die


Corresponden? aus Deutsch^Oestreich.

In den Wochen, welche dem Schluß des Reichstags vorhergingen, ist
von nichts so viel die Rede gewesen, wie von einer bevorstehenden Ver-
fassungsrevision. Auf den Gedanken an diese „Revision" wird man über kurz
oder lang, auch wieder zurückkommen, und daß auch diese nicht die letzte sein
wird, dafür bürgt — unsere Verfassungstreue, Von zwei verschiedenen Sei¬
ten wurde sturmgelaufen gegen die Ordnung der „cisleithanischen" Dinge,
welche durch die Gesetze vom 21. Decbr. 1867 hergestellt worden ist; die
Deutschen verlangten eine andere Zusammensetzung der Reichsvertretung, die
Polen eine größere Selbständigkeit des Landes Galizien. Eine nicht un¬
bedeutende Fraction des Landesministeriums hätte, wie die Blätter aus¬
plauderten, am liebsten jedes Zugeständnis; verweigert, ließ sich aber doch über¬
zeugen, daß ein Reformministerium sich nicht einfach ablehnend gegen jede
Reform stellen könne, und so ist ein Compromiß möglich geblieben. Der For¬
derung der Deutschen soll nachgegeben werden — aber bei Leibe nicht in
ihrem ganzen Umfange. Ein Abgeordnetenhaus von 203 Mitgliedern bei
einer Bevölkerung von beiläufig 20 Millionen, mithin ein Vertreter für
100,000 Seelen, kann allerdings nicht als ein richtiges Verhältniß angesehen
werden (in dem benachbarten Bayern kommt beispielsweise ein Abgeordneter
auf ungefähr 36,000 Seelen), und die Beschickung des Reichsrathes durch
die Landtage und aus denselben ist vollends ebenso ungerecht als unpraktisch.
Es lag die Absicht vor, die Mitgliederzahl des Abgeordnetenhauses zu ver¬
doppeln oder doch um die Hälfte zu verstärken und den Landtagen frei¬
zustellen, ob sie ihr Wahlrecht ausüben oder auf dasselbe zu Gunsten directer
Wahlen verzichten wollen. Wird dieser Plan wieder aufgenommen, so wird
der Reichsrath ein noch weit monströseres Geschöpf, als es gegenwärtig ist.

Es wird nämlich vorausgesetzt, daß die Landtage von Niederöstreich,
dessen Vertretung in dieser Frage die Initiative ergriffen hat, Oberöstreich,
Steiermark, Salzburg zuverlässig, Mähren, Kärnthen. Krain vielleicht sich,
wenn es zur Entscheidung kommt, für die directe Wahl erklären würden;
sehr zweifelhaft ist es bei Böhmen und Galizien; die deutsche Mehrheit in
dem einen und die polnische in dem anderen Landtage wird kaum geneigt
sein, auf die Vortheile, welche die alten Wahlordnungen ihnen als den in¬
telligenteren und besitzenden einräumten, zu Gunsten der tschechischen und
ruthenischen Masse zu verzichten und in gar keinem Falle werden die geist¬
lichen Führer der Landesvertretung von Tirol ihre jetzt so angenehme und
sichere Position jemals freiwillig aufgeben. So würde möglicherweise die


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[0383] Corresponden? aus Deutsch^Oestreich. In den Wochen, welche dem Schluß des Reichstags vorhergingen, ist von nichts so viel die Rede gewesen, wie von einer bevorstehenden Ver- fassungsrevision. Auf den Gedanken an diese „Revision" wird man über kurz oder lang, auch wieder zurückkommen, und daß auch diese nicht die letzte sein wird, dafür bürgt — unsere Verfassungstreue, Von zwei verschiedenen Sei¬ ten wurde sturmgelaufen gegen die Ordnung der „cisleithanischen" Dinge, welche durch die Gesetze vom 21. Decbr. 1867 hergestellt worden ist; die Deutschen verlangten eine andere Zusammensetzung der Reichsvertretung, die Polen eine größere Selbständigkeit des Landes Galizien. Eine nicht un¬ bedeutende Fraction des Landesministeriums hätte, wie die Blätter aus¬ plauderten, am liebsten jedes Zugeständnis; verweigert, ließ sich aber doch über¬ zeugen, daß ein Reformministerium sich nicht einfach ablehnend gegen jede Reform stellen könne, und so ist ein Compromiß möglich geblieben. Der For¬ derung der Deutschen soll nachgegeben werden — aber bei Leibe nicht in ihrem ganzen Umfange. Ein Abgeordnetenhaus von 203 Mitgliedern bei einer Bevölkerung von beiläufig 20 Millionen, mithin ein Vertreter für 100,000 Seelen, kann allerdings nicht als ein richtiges Verhältniß angesehen werden (in dem benachbarten Bayern kommt beispielsweise ein Abgeordneter auf ungefähr 36,000 Seelen), und die Beschickung des Reichsrathes durch die Landtage und aus denselben ist vollends ebenso ungerecht als unpraktisch. Es lag die Absicht vor, die Mitgliederzahl des Abgeordnetenhauses zu ver¬ doppeln oder doch um die Hälfte zu verstärken und den Landtagen frei¬ zustellen, ob sie ihr Wahlrecht ausüben oder auf dasselbe zu Gunsten directer Wahlen verzichten wollen. Wird dieser Plan wieder aufgenommen, so wird der Reichsrath ein noch weit monströseres Geschöpf, als es gegenwärtig ist. Es wird nämlich vorausgesetzt, daß die Landtage von Niederöstreich, dessen Vertretung in dieser Frage die Initiative ergriffen hat, Oberöstreich, Steiermark, Salzburg zuverlässig, Mähren, Kärnthen. Krain vielleicht sich, wenn es zur Entscheidung kommt, für die directe Wahl erklären würden; sehr zweifelhaft ist es bei Böhmen und Galizien; die deutsche Mehrheit in dem einen und die polnische in dem anderen Landtage wird kaum geneigt sein, auf die Vortheile, welche die alten Wahlordnungen ihnen als den in¬ telligenteren und besitzenden einräumten, zu Gunsten der tschechischen und ruthenischen Masse zu verzichten und in gar keinem Falle werden die geist¬ lichen Führer der Landesvertretung von Tirol ihre jetzt so angenehme und sichere Position jemals freiwillig aufgeben. So würde möglicherweise die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/383>, abgerufen am 04.07.2024.