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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Literatur.
Meine Erinnerungen. Von Massimo d'Azeglio. Autorisirte Uebersetzung. (Frank¬
furt 1869, I. D. Sauerländers Verlag.)

Als die "Ricordi" des berühmten italienischen Staatsmannes vor zwei Jahren
zu Florenz erschienen, gehörten die Grenzboten zu den ersten, welche dem deutschen
Publicum von diesem interessanten Beitrag zur Geschichte des neuen Italien' aus¬
führliche Kunde gaben (Jahrg. 1867, H. 35 und 36). Es bleibt uns darum nur
übrig, der gegenwärtigen vorliegenden deutschen Ausgabe dieses Werkes einige kurze
Bemerkungen zu widmen. °

Der ungenannte Uebersetzer hat es für geeignet gehalten, das aus zwei ziem¬
lich umfangreichen Bänden bestehende d'Azegliosche Buch in einen 308 S. umfassen¬
den Band zusammen zu drängen und zu diesem Behuf verschiedene Kürzungen vor¬
zunehmen. Wenn sich gleich nicht leugnen läßt, daß die Ansprüche, mit denen der
Deutsche an die Lebensgeschichte eines italienischen Patrioten tritt, von denen der
Volks- und Zeitgenossen des Memoirenschreibens verschieden sind, so erscheint es
doch als Wagniß, eine Darstellung, deren eigenthümlicher Reiz wenigstens zum
großen Theil im Detail liegt und welche an den Leser den Anspruch liebevoller
Versenkung in eine bestimmte Individualität stellt, in einzelnen Partien auszugs¬
weise zu behandeln und dadurch um ihr natürliches Ebenmaß zu bringen. Wenn
auch das Charakterbild, das d'Azeglio von sich selbst entwirft, aus dieser verkürzten
deutschen Ausgabe deutlich genug hervortritt und die Theilnahme des Lesers fesselt,
so ist damit das von dem Uebersetzer geübte Verfahren doch noch nicht allseitig ge¬
rechtfertigt. Das Buch soll uns zugleich ein culturgeschichtliches Bild von italienischem
Leben-und Treiben im 19. Jahrhundert entwerfen. Dieses Bild aber hat an Voll¬
ständigkeit eingebüßt; es ist nicht gut möglich, im Einzelnen nachzuweisen, welche
Lücken durchaus giebigere Benutzung des Originals hätten ausgefüllt werden können --
das Ganze macht eben nicht den Eindruck der Abrundung, welche der italienischen
Ausgabe nachgerühmt worden.

Sehr viel deutlicher aber tritt ein anderer Mangel hervor; der Uebersetzer ist
der Sprache, in welche er übersetzt hat, nicht Herr, er drückt sich in ihr dilettantisch
und unsicher, nicht selten incorrect aus, an einzelnen Stellen leidet der
Sinn des Erzählten. Die Uebersetzung sucht sich möglichst eng an das Original
anzuschließen, verletzt über diesem Bestreben aber die Gesetze des deutschen Geschmacks
ebenso häufig wie die der Stylistik und Grammatik. Den Hauptvorzug einer
Uebertragung von einer Sprache in die andere wird es immer ausmachen, wenn
der Leser vollständig vergißt, daß er es mit einer Uebersetzung zu thun hat. Davon
kann im vorliegenden Fall durchaus nicht die Rede sein. Möge der Leser nach
besonders ergötzlichen Beispielen selbst darüber urtheilen.

S. 24 heißt es: "Wir Piemontesen sind hart für uns selbst, fürchten kein
Unglück, fürchten kein hartes Leben, noch die Gefahr, wenn beides für unser Land,
das Haus Savoyen und für die Ehre ist." S. 28: "ihnen fiel das schöne Loos


Literatur.
Meine Erinnerungen. Von Massimo d'Azeglio. Autorisirte Uebersetzung. (Frank¬
furt 1869, I. D. Sauerländers Verlag.)

Als die „Ricordi" des berühmten italienischen Staatsmannes vor zwei Jahren
zu Florenz erschienen, gehörten die Grenzboten zu den ersten, welche dem deutschen
Publicum von diesem interessanten Beitrag zur Geschichte des neuen Italien' aus¬
führliche Kunde gaben (Jahrg. 1867, H. 35 und 36). Es bleibt uns darum nur
übrig, der gegenwärtigen vorliegenden deutschen Ausgabe dieses Werkes einige kurze
Bemerkungen zu widmen. °

Der ungenannte Uebersetzer hat es für geeignet gehalten, das aus zwei ziem¬
lich umfangreichen Bänden bestehende d'Azegliosche Buch in einen 308 S. umfassen¬
den Band zusammen zu drängen und zu diesem Behuf verschiedene Kürzungen vor¬
zunehmen. Wenn sich gleich nicht leugnen läßt, daß die Ansprüche, mit denen der
Deutsche an die Lebensgeschichte eines italienischen Patrioten tritt, von denen der
Volks- und Zeitgenossen des Memoirenschreibens verschieden sind, so erscheint es
doch als Wagniß, eine Darstellung, deren eigenthümlicher Reiz wenigstens zum
großen Theil im Detail liegt und welche an den Leser den Anspruch liebevoller
Versenkung in eine bestimmte Individualität stellt, in einzelnen Partien auszugs¬
weise zu behandeln und dadurch um ihr natürliches Ebenmaß zu bringen. Wenn
auch das Charakterbild, das d'Azeglio von sich selbst entwirft, aus dieser verkürzten
deutschen Ausgabe deutlich genug hervortritt und die Theilnahme des Lesers fesselt,
so ist damit das von dem Uebersetzer geübte Verfahren doch noch nicht allseitig ge¬
rechtfertigt. Das Buch soll uns zugleich ein culturgeschichtliches Bild von italienischem
Leben-und Treiben im 19. Jahrhundert entwerfen. Dieses Bild aber hat an Voll¬
ständigkeit eingebüßt; es ist nicht gut möglich, im Einzelnen nachzuweisen, welche
Lücken durchaus giebigere Benutzung des Originals hätten ausgefüllt werden können —
das Ganze macht eben nicht den Eindruck der Abrundung, welche der italienischen
Ausgabe nachgerühmt worden.

Sehr viel deutlicher aber tritt ein anderer Mangel hervor; der Uebersetzer ist
der Sprache, in welche er übersetzt hat, nicht Herr, er drückt sich in ihr dilettantisch
und unsicher, nicht selten incorrect aus, an einzelnen Stellen leidet der
Sinn des Erzählten. Die Uebersetzung sucht sich möglichst eng an das Original
anzuschließen, verletzt über diesem Bestreben aber die Gesetze des deutschen Geschmacks
ebenso häufig wie die der Stylistik und Grammatik. Den Hauptvorzug einer
Uebertragung von einer Sprache in die andere wird es immer ausmachen, wenn
der Leser vollständig vergißt, daß er es mit einer Uebersetzung zu thun hat. Davon
kann im vorliegenden Fall durchaus nicht die Rede sein. Möge der Leser nach
besonders ergötzlichen Beispielen selbst darüber urtheilen.

S. 24 heißt es: „Wir Piemontesen sind hart für uns selbst, fürchten kein
Unglück, fürchten kein hartes Leben, noch die Gefahr, wenn beides für unser Land,
das Haus Savoyen und für die Ehre ist." S. 28: „ihnen fiel das schöne Loos


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[0124] Literatur. Meine Erinnerungen. Von Massimo d'Azeglio. Autorisirte Uebersetzung. (Frank¬ furt 1869, I. D. Sauerländers Verlag.) Als die „Ricordi" des berühmten italienischen Staatsmannes vor zwei Jahren zu Florenz erschienen, gehörten die Grenzboten zu den ersten, welche dem deutschen Publicum von diesem interessanten Beitrag zur Geschichte des neuen Italien' aus¬ führliche Kunde gaben (Jahrg. 1867, H. 35 und 36). Es bleibt uns darum nur übrig, der gegenwärtigen vorliegenden deutschen Ausgabe dieses Werkes einige kurze Bemerkungen zu widmen. ° Der ungenannte Uebersetzer hat es für geeignet gehalten, das aus zwei ziem¬ lich umfangreichen Bänden bestehende d'Azegliosche Buch in einen 308 S. umfassen¬ den Band zusammen zu drängen und zu diesem Behuf verschiedene Kürzungen vor¬ zunehmen. Wenn sich gleich nicht leugnen läßt, daß die Ansprüche, mit denen der Deutsche an die Lebensgeschichte eines italienischen Patrioten tritt, von denen der Volks- und Zeitgenossen des Memoirenschreibens verschieden sind, so erscheint es doch als Wagniß, eine Darstellung, deren eigenthümlicher Reiz wenigstens zum großen Theil im Detail liegt und welche an den Leser den Anspruch liebevoller Versenkung in eine bestimmte Individualität stellt, in einzelnen Partien auszugs¬ weise zu behandeln und dadurch um ihr natürliches Ebenmaß zu bringen. Wenn auch das Charakterbild, das d'Azeglio von sich selbst entwirft, aus dieser verkürzten deutschen Ausgabe deutlich genug hervortritt und die Theilnahme des Lesers fesselt, so ist damit das von dem Uebersetzer geübte Verfahren doch noch nicht allseitig ge¬ rechtfertigt. Das Buch soll uns zugleich ein culturgeschichtliches Bild von italienischem Leben-und Treiben im 19. Jahrhundert entwerfen. Dieses Bild aber hat an Voll¬ ständigkeit eingebüßt; es ist nicht gut möglich, im Einzelnen nachzuweisen, welche Lücken durchaus giebigere Benutzung des Originals hätten ausgefüllt werden können — das Ganze macht eben nicht den Eindruck der Abrundung, welche der italienischen Ausgabe nachgerühmt worden. Sehr viel deutlicher aber tritt ein anderer Mangel hervor; der Uebersetzer ist der Sprache, in welche er übersetzt hat, nicht Herr, er drückt sich in ihr dilettantisch und unsicher, nicht selten incorrect aus, an einzelnen Stellen leidet der Sinn des Erzählten. Die Uebersetzung sucht sich möglichst eng an das Original anzuschließen, verletzt über diesem Bestreben aber die Gesetze des deutschen Geschmacks ebenso häufig wie die der Stylistik und Grammatik. Den Hauptvorzug einer Uebertragung von einer Sprache in die andere wird es immer ausmachen, wenn der Leser vollständig vergißt, daß er es mit einer Uebersetzung zu thun hat. Davon kann im vorliegenden Fall durchaus nicht die Rede sein. Möge der Leser nach besonders ergötzlichen Beispielen selbst darüber urtheilen. S. 24 heißt es: „Wir Piemontesen sind hart für uns selbst, fürchten kein Unglück, fürchten kein hartes Leben, noch die Gefahr, wenn beides für unser Land, das Haus Savoyen und für die Ehre ist." S. 28: „ihnen fiel das schöne Loos

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/124>, abgerufen am 24.07.2024.