Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

bleiben werden. Die realistische Richtung, welche unser öffentliches Leben seit
den letzten zwei Jahren genommen hat, wird dem Bedürfniß nach bestimmten,
greifbaren Fortschritten über kurz oder lang doch wieder zu seinem Recht
verhelfen und die Mittelparteien nöthigen, nur mit und auf Thatsachen zu
rechnen. Auch auf die Massen kann seit dem Jahre 1866 nicht mehr durch
Resolutionen, Programme und symbolische Handlungen dauernd gewirkt
werden. Davon hat noch in jüngster Zeit die unter Vorsitz des Buchhänd¬
lers Jonas abgehaltene berliner Versammlung nord- und süddeutscher Radi-
caler Zeugniß ablegen müssen. Der charakteristische Beschluß dieses Meetings,
ein neues Programm ausarbeiten zu lassen, d. h. die Ziellosigkeit der bis¬
herigen radicalen und demokratischen Bestrebungen von hüben und drüben
offen einzugestehen, ist die einzige Frucht dieser Vereinigung ungebildeter oder
politisch bildungsunsähiger Doktrinäre gewesen, die nur noch in den Leser¬
kreisen der Zukunft, des Stuttgarter Beobachters und der democratischen Cor-
respondenz Beachtung und Theilnahme finden. Sache der nationalen Partei
wird es sein, den Geist der Nation nüchtern zu erhalten und die Wieder¬
kehr jener Zeiten zu verhindern, in denen der Philister die Sache deutscher
Einheit zu fördern glaubte, wenn er kräftigen Resolutionen und hochtönenden
Phrasen von dem unaufhaltsamen Bedürfniß der deutschen Stämme zur Ver¬
ständigung seine behagliche Zustimmung zu Theil werden ließ. Nach den
Erfahrungen der letzten Jahre ist zweifellos, daß der sich selbst überlassene
Volksinstinkt in Wahrheit immer wieder in das particularistische Fahrwasser
steuert, mag dieses grün-weiß, schwarz-weiß oder gelb-weiß beflaggte Lust¬
kähne tragen, und daß die Sache der wirklichen Einigung nur durch ernste,
in das Fleisch unserer Gewohnheiten schmerzlich einschneidende Arbeit geför¬
dert wird und gefördert werden kann.




Die Schlußwoche des ZoUparlamcnts.

Die erste Session des Zollparlaments ist verlaufen wie ein kunstgerecht
angelegtes Drama mit heiterem Ausgang, oder wie ein Gewitttertag im
Hochsommer, der nach viel Hitze, Staub und Mißbehagen zuletzt mit einem
behaglichen Abend endigt. So beunruhigend es drei Wochen hindurch mit
dem an diese Institution geknüpften Hoffnungen abwärtszugehen schien, so
rasch haben sich in der vierten Woche die Gemüther wieder gehoben. Nicht
allein äußerlich und zufällig hat eine Reihe schöner Feste den Schluß der


bleiben werden. Die realistische Richtung, welche unser öffentliches Leben seit
den letzten zwei Jahren genommen hat, wird dem Bedürfniß nach bestimmten,
greifbaren Fortschritten über kurz oder lang doch wieder zu seinem Recht
verhelfen und die Mittelparteien nöthigen, nur mit und auf Thatsachen zu
rechnen. Auch auf die Massen kann seit dem Jahre 1866 nicht mehr durch
Resolutionen, Programme und symbolische Handlungen dauernd gewirkt
werden. Davon hat noch in jüngster Zeit die unter Vorsitz des Buchhänd¬
lers Jonas abgehaltene berliner Versammlung nord- und süddeutscher Radi-
caler Zeugniß ablegen müssen. Der charakteristische Beschluß dieses Meetings,
ein neues Programm ausarbeiten zu lassen, d. h. die Ziellosigkeit der bis¬
herigen radicalen und demokratischen Bestrebungen von hüben und drüben
offen einzugestehen, ist die einzige Frucht dieser Vereinigung ungebildeter oder
politisch bildungsunsähiger Doktrinäre gewesen, die nur noch in den Leser¬
kreisen der Zukunft, des Stuttgarter Beobachters und der democratischen Cor-
respondenz Beachtung und Theilnahme finden. Sache der nationalen Partei
wird es sein, den Geist der Nation nüchtern zu erhalten und die Wieder¬
kehr jener Zeiten zu verhindern, in denen der Philister die Sache deutscher
Einheit zu fördern glaubte, wenn er kräftigen Resolutionen und hochtönenden
Phrasen von dem unaufhaltsamen Bedürfniß der deutschen Stämme zur Ver¬
ständigung seine behagliche Zustimmung zu Theil werden ließ. Nach den
Erfahrungen der letzten Jahre ist zweifellos, daß der sich selbst überlassene
Volksinstinkt in Wahrheit immer wieder in das particularistische Fahrwasser
steuert, mag dieses grün-weiß, schwarz-weiß oder gelb-weiß beflaggte Lust¬
kähne tragen, und daß die Sache der wirklichen Einigung nur durch ernste,
in das Fleisch unserer Gewohnheiten schmerzlich einschneidende Arbeit geför¬
dert wird und gefördert werden kann.




Die Schlußwoche des ZoUparlamcnts.

Die erste Session des Zollparlaments ist verlaufen wie ein kunstgerecht
angelegtes Drama mit heiterem Ausgang, oder wie ein Gewitttertag im
Hochsommer, der nach viel Hitze, Staub und Mißbehagen zuletzt mit einem
behaglichen Abend endigt. So beunruhigend es drei Wochen hindurch mit
dem an diese Institution geknüpften Hoffnungen abwärtszugehen schien, so
rasch haben sich in der vierten Woche die Gemüther wieder gehoben. Nicht
allein äußerlich und zufällig hat eine Reihe schöner Feste den Schluß der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0358" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117890"/>
          <p xml:id="ID_1130" prev="#ID_1129"> bleiben werden. Die realistische Richtung, welche unser öffentliches Leben seit<lb/>
den letzten zwei Jahren genommen hat, wird dem Bedürfniß nach bestimmten,<lb/>
greifbaren Fortschritten über kurz oder lang doch wieder zu seinem Recht<lb/>
verhelfen und die Mittelparteien nöthigen, nur mit und auf Thatsachen zu<lb/>
rechnen. Auch auf die Massen kann seit dem Jahre 1866 nicht mehr durch<lb/>
Resolutionen, Programme und symbolische Handlungen dauernd gewirkt<lb/>
werden. Davon hat noch in jüngster Zeit die unter Vorsitz des Buchhänd¬<lb/>
lers Jonas abgehaltene berliner Versammlung nord- und süddeutscher Radi-<lb/>
caler Zeugniß ablegen müssen. Der charakteristische Beschluß dieses Meetings,<lb/>
ein neues Programm ausarbeiten zu lassen, d. h. die Ziellosigkeit der bis¬<lb/>
herigen radicalen und demokratischen Bestrebungen von hüben und drüben<lb/>
offen einzugestehen, ist die einzige Frucht dieser Vereinigung ungebildeter oder<lb/>
politisch bildungsunsähiger Doktrinäre gewesen, die nur noch in den Leser¬<lb/>
kreisen der Zukunft, des Stuttgarter Beobachters und der democratischen Cor-<lb/>
respondenz Beachtung und Theilnahme finden. Sache der nationalen Partei<lb/>
wird es sein, den Geist der Nation nüchtern zu erhalten und die Wieder¬<lb/>
kehr jener Zeiten zu verhindern, in denen der Philister die Sache deutscher<lb/>
Einheit zu fördern glaubte, wenn er kräftigen Resolutionen und hochtönenden<lb/>
Phrasen von dem unaufhaltsamen Bedürfniß der deutschen Stämme zur Ver¬<lb/>
ständigung seine behagliche Zustimmung zu Theil werden ließ. Nach den<lb/>
Erfahrungen der letzten Jahre ist zweifellos, daß der sich selbst überlassene<lb/>
Volksinstinkt in Wahrheit immer wieder in das particularistische Fahrwasser<lb/>
steuert, mag dieses grün-weiß, schwarz-weiß oder gelb-weiß beflaggte Lust¬<lb/>
kähne tragen, und daß die Sache der wirklichen Einigung nur durch ernste,<lb/>
in das Fleisch unserer Gewohnheiten schmerzlich einschneidende Arbeit geför¬<lb/>
dert wird und gefördert werden kann.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Schlußwoche des ZoUparlamcnts.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1131" next="#ID_1132"> Die erste Session des Zollparlaments ist verlaufen wie ein kunstgerecht<lb/>
angelegtes Drama mit heiterem Ausgang, oder wie ein Gewitttertag im<lb/>
Hochsommer, der nach viel Hitze, Staub und Mißbehagen zuletzt mit einem<lb/>
behaglichen Abend endigt. So beunruhigend es drei Wochen hindurch mit<lb/>
dem an diese Institution geknüpften Hoffnungen abwärtszugehen schien, so<lb/>
rasch haben sich in der vierten Woche die Gemüther wieder gehoben. Nicht<lb/>
allein äußerlich und zufällig hat eine Reihe schöner Feste den Schluß der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0358] bleiben werden. Die realistische Richtung, welche unser öffentliches Leben seit den letzten zwei Jahren genommen hat, wird dem Bedürfniß nach bestimmten, greifbaren Fortschritten über kurz oder lang doch wieder zu seinem Recht verhelfen und die Mittelparteien nöthigen, nur mit und auf Thatsachen zu rechnen. Auch auf die Massen kann seit dem Jahre 1866 nicht mehr durch Resolutionen, Programme und symbolische Handlungen dauernd gewirkt werden. Davon hat noch in jüngster Zeit die unter Vorsitz des Buchhänd¬ lers Jonas abgehaltene berliner Versammlung nord- und süddeutscher Radi- caler Zeugniß ablegen müssen. Der charakteristische Beschluß dieses Meetings, ein neues Programm ausarbeiten zu lassen, d. h. die Ziellosigkeit der bis¬ herigen radicalen und demokratischen Bestrebungen von hüben und drüben offen einzugestehen, ist die einzige Frucht dieser Vereinigung ungebildeter oder politisch bildungsunsähiger Doktrinäre gewesen, die nur noch in den Leser¬ kreisen der Zukunft, des Stuttgarter Beobachters und der democratischen Cor- respondenz Beachtung und Theilnahme finden. Sache der nationalen Partei wird es sein, den Geist der Nation nüchtern zu erhalten und die Wieder¬ kehr jener Zeiten zu verhindern, in denen der Philister die Sache deutscher Einheit zu fördern glaubte, wenn er kräftigen Resolutionen und hochtönenden Phrasen von dem unaufhaltsamen Bedürfniß der deutschen Stämme zur Ver¬ ständigung seine behagliche Zustimmung zu Theil werden ließ. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre ist zweifellos, daß der sich selbst überlassene Volksinstinkt in Wahrheit immer wieder in das particularistische Fahrwasser steuert, mag dieses grün-weiß, schwarz-weiß oder gelb-weiß beflaggte Lust¬ kähne tragen, und daß die Sache der wirklichen Einigung nur durch ernste, in das Fleisch unserer Gewohnheiten schmerzlich einschneidende Arbeit geför¬ dert wird und gefördert werden kann. Die Schlußwoche des ZoUparlamcnts. Die erste Session des Zollparlaments ist verlaufen wie ein kunstgerecht angelegtes Drama mit heiterem Ausgang, oder wie ein Gewitttertag im Hochsommer, der nach viel Hitze, Staub und Mißbehagen zuletzt mit einem behaglichen Abend endigt. So beunruhigend es drei Wochen hindurch mit dem an diese Institution geknüpften Hoffnungen abwärtszugehen schien, so rasch haben sich in der vierten Woche die Gemüther wieder gehoben. Nicht allein äußerlich und zufällig hat eine Reihe schöner Feste den Schluß der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/358
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/358>, abgerufen am 15.01.2025.