Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Bildungsgang eines Gelehrten am Ausgang des 15. Jahrhunderts.

Die naive Schilderung, welche Thomas Platter in seiner Selbstbio¬
graphie von dem Leben und Treiben unter t>en fahrenden Schülern und seinem
ferneren Bildungsgang gibt, ist aus Freytags Bildern allgemein bekannt.
Wenn die lebendige Anschaulichkeit seiner Darstellung auch gar keinen Zweifel
zuläßt, daß er eigene Erlebnisse mit der treuesten Wahrheit wiedergibt, so
machen doch seine Berichte auf uns einen so seltsamen Eindruck, daß man
geneigt sein könnte, ungewöhnliche und ausnahmsweise Erfahrungen darin
zu sehen. Man wird daher auch einen andern Erzähler nicht ungern hören,
der bezeugen kann, wie das, was uns jetzt so schwer begreiflich erscheint,
einst an der Tagesordnung war. Ein Benedictinermönch des Klosters Laach
am Rhein, Frater Johannes Piemontanus, hat in einem an seinen
geliebten Bruder Philipp, Schulmeister in Münster- und Westphalenland,
gerichteten Reisebuch (Oäeporieon) seine Lebensweise, namentlich seine Jugend
und seinen Bildungsgang ausführlich geschildert. Als Gelehrter schreibt er
lateinisch in fließender Sprache, die durch Citate und Anspielungen von seiner
classischen Lecture Zeugniß ablegt, doch läßt das fremde Kleid nirgend Un¬
mittelbarkeit und Frische lebendiger und treuer Jugendeindrücke vermissen.
Wer aus seiner Handschrift ihm nacherzählt, muß freilich beträchtlich kürzen,
aber er würde ihm Unrecht thun, wenn er ihn nicht in der Muttersprache
einfach und ohne classische Reminiscenzen reden ließe.

Johannes Butzbach ist in Miltenberg im Jahr 1478 geboren, der
Sohn Meister Conrads, eines ehrsamen, nicht unbemittelten Webers.
Als kleines Kind nahm ihn die Schwester seines Vaters, die in kinderloser
Ehe mit einem reichen Mann lebte, zu sich und erzog ihn mit mütterlicher
Liebe. Frühzeitig schickte sie ihn in die Schule; anfangs lockte sie ihn mit
Brezeln, die er zur Belohnung erhielt, wobei er des horazischen Verses ein¬
gedenk ist, daß


manchmal auch liebkosende Lehrer den Knaben
Backwerk spenden;

nachher hielt sie ihn mit Ernst zum Schulbesuch an und sparte die Ruthe


GrenMen l. 1863. öl
Bildungsgang eines Gelehrten am Ausgang des 15. Jahrhunderts.

Die naive Schilderung, welche Thomas Platter in seiner Selbstbio¬
graphie von dem Leben und Treiben unter t>en fahrenden Schülern und seinem
ferneren Bildungsgang gibt, ist aus Freytags Bildern allgemein bekannt.
Wenn die lebendige Anschaulichkeit seiner Darstellung auch gar keinen Zweifel
zuläßt, daß er eigene Erlebnisse mit der treuesten Wahrheit wiedergibt, so
machen doch seine Berichte auf uns einen so seltsamen Eindruck, daß man
geneigt sein könnte, ungewöhnliche und ausnahmsweise Erfahrungen darin
zu sehen. Man wird daher auch einen andern Erzähler nicht ungern hören,
der bezeugen kann, wie das, was uns jetzt so schwer begreiflich erscheint,
einst an der Tagesordnung war. Ein Benedictinermönch des Klosters Laach
am Rhein, Frater Johannes Piemontanus, hat in einem an seinen
geliebten Bruder Philipp, Schulmeister in Münster- und Westphalenland,
gerichteten Reisebuch (Oäeporieon) seine Lebensweise, namentlich seine Jugend
und seinen Bildungsgang ausführlich geschildert. Als Gelehrter schreibt er
lateinisch in fließender Sprache, die durch Citate und Anspielungen von seiner
classischen Lecture Zeugniß ablegt, doch läßt das fremde Kleid nirgend Un¬
mittelbarkeit und Frische lebendiger und treuer Jugendeindrücke vermissen.
Wer aus seiner Handschrift ihm nacherzählt, muß freilich beträchtlich kürzen,
aber er würde ihm Unrecht thun, wenn er ihn nicht in der Muttersprache
einfach und ohne classische Reminiscenzen reden ließe.

Johannes Butzbach ist in Miltenberg im Jahr 1478 geboren, der
Sohn Meister Conrads, eines ehrsamen, nicht unbemittelten Webers.
Als kleines Kind nahm ihn die Schwester seines Vaters, die in kinderloser
Ehe mit einem reichen Mann lebte, zu sich und erzog ihn mit mütterlicher
Liebe. Frühzeitig schickte sie ihn in die Schule; anfangs lockte sie ihn mit
Brezeln, die er zur Belohnung erhielt, wobei er des horazischen Verses ein¬
gedenk ist, daß


manchmal auch liebkosende Lehrer den Knaben
Backwerk spenden;

nachher hielt sie ihn mit Ernst zum Schulbesuch an und sparte die Ruthe


GrenMen l. 1863. öl
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <pb facs="#f0491" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117493"/>
        <div n="1">
          <head> Bildungsgang eines Gelehrten am Ausgang des 15. Jahrhunderts.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1598"> Die naive Schilderung, welche Thomas Platter in seiner Selbstbio¬<lb/>
graphie von dem Leben und Treiben unter t&gt;en fahrenden Schülern und seinem<lb/>
ferneren Bildungsgang gibt, ist aus Freytags Bildern allgemein bekannt.<lb/>
Wenn die lebendige Anschaulichkeit seiner Darstellung auch gar keinen Zweifel<lb/>
zuläßt, daß er eigene Erlebnisse mit der treuesten Wahrheit wiedergibt, so<lb/>
machen doch seine Berichte auf uns einen so seltsamen Eindruck, daß man<lb/>
geneigt sein könnte, ungewöhnliche und ausnahmsweise Erfahrungen darin<lb/>
zu sehen. Man wird daher auch einen andern Erzähler nicht ungern hören,<lb/>
der bezeugen kann, wie das, was uns jetzt so schwer begreiflich erscheint,<lb/>
einst an der Tagesordnung war. Ein Benedictinermönch des Klosters Laach<lb/>
am Rhein, Frater Johannes Piemontanus, hat in einem an seinen<lb/>
geliebten Bruder Philipp, Schulmeister in Münster- und Westphalenland,<lb/>
gerichteten Reisebuch (Oäeporieon) seine Lebensweise, namentlich seine Jugend<lb/>
und seinen Bildungsgang ausführlich geschildert. Als Gelehrter schreibt er<lb/>
lateinisch in fließender Sprache, die durch Citate und Anspielungen von seiner<lb/>
classischen Lecture Zeugniß ablegt, doch läßt das fremde Kleid nirgend Un¬<lb/>
mittelbarkeit und Frische lebendiger und treuer Jugendeindrücke vermissen.<lb/>
Wer aus seiner Handschrift ihm nacherzählt, muß freilich beträchtlich kürzen,<lb/>
aber er würde ihm Unrecht thun, wenn er ihn nicht in der Muttersprache<lb/>
einfach und ohne classische Reminiscenzen reden ließe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1599"> Johannes Butzbach ist in Miltenberg im Jahr 1478 geboren, der<lb/>
Sohn Meister Conrads, eines ehrsamen, nicht unbemittelten Webers.<lb/>
Als kleines Kind nahm ihn die Schwester seines Vaters, die in kinderloser<lb/>
Ehe mit einem reichen Mann lebte, zu sich und erzog ihn mit mütterlicher<lb/>
Liebe. Frühzeitig schickte sie ihn in die Schule; anfangs lockte sie ihn mit<lb/>
Brezeln, die er zur Belohnung erhielt, wobei er des horazischen Verses ein¬<lb/>
gedenk ist, daß</p><lb/>
          <quote> manchmal auch liebkosende Lehrer den Knaben<lb/>
Backwerk spenden;</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1600" next="#ID_1601"> nachher hielt sie ihn mit Ernst zum Schulbesuch an und sparte die Ruthe</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> GrenMen l. 1863. öl</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0491] Bildungsgang eines Gelehrten am Ausgang des 15. Jahrhunderts. Die naive Schilderung, welche Thomas Platter in seiner Selbstbio¬ graphie von dem Leben und Treiben unter t>en fahrenden Schülern und seinem ferneren Bildungsgang gibt, ist aus Freytags Bildern allgemein bekannt. Wenn die lebendige Anschaulichkeit seiner Darstellung auch gar keinen Zweifel zuläßt, daß er eigene Erlebnisse mit der treuesten Wahrheit wiedergibt, so machen doch seine Berichte auf uns einen so seltsamen Eindruck, daß man geneigt sein könnte, ungewöhnliche und ausnahmsweise Erfahrungen darin zu sehen. Man wird daher auch einen andern Erzähler nicht ungern hören, der bezeugen kann, wie das, was uns jetzt so schwer begreiflich erscheint, einst an der Tagesordnung war. Ein Benedictinermönch des Klosters Laach am Rhein, Frater Johannes Piemontanus, hat in einem an seinen geliebten Bruder Philipp, Schulmeister in Münster- und Westphalenland, gerichteten Reisebuch (Oäeporieon) seine Lebensweise, namentlich seine Jugend und seinen Bildungsgang ausführlich geschildert. Als Gelehrter schreibt er lateinisch in fließender Sprache, die durch Citate und Anspielungen von seiner classischen Lecture Zeugniß ablegt, doch läßt das fremde Kleid nirgend Un¬ mittelbarkeit und Frische lebendiger und treuer Jugendeindrücke vermissen. Wer aus seiner Handschrift ihm nacherzählt, muß freilich beträchtlich kürzen, aber er würde ihm Unrecht thun, wenn er ihn nicht in der Muttersprache einfach und ohne classische Reminiscenzen reden ließe. Johannes Butzbach ist in Miltenberg im Jahr 1478 geboren, der Sohn Meister Conrads, eines ehrsamen, nicht unbemittelten Webers. Als kleines Kind nahm ihn die Schwester seines Vaters, die in kinderloser Ehe mit einem reichen Mann lebte, zu sich und erzog ihn mit mütterlicher Liebe. Frühzeitig schickte sie ihn in die Schule; anfangs lockte sie ihn mit Brezeln, die er zur Belohnung erhielt, wobei er des horazischen Verses ein¬ gedenk ist, daß manchmal auch liebkosende Lehrer den Knaben Backwerk spenden; nachher hielt sie ihn mit Ernst zum Schulbesuch an und sparte die Ruthe GrenMen l. 1863. öl

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/491
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/491>, abgerufen am 29.06.2024.