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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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Die Reformfrage in England.

Die Entwickelung der parlamentarischen Reform ist in der gegenwärtigen
Session so eigenthümlichen Wechselfällen ausgesetzt gewesen, daß es sich jetzt,
wo die ministerielle Bill ihre kritischen Stadien passirt hat, wohl verlohnt, einen
Rückblick zu thun, der zugleich auch eine Perspective für die Zukunft zu eröffnen
geeignet ist.

Die Thronrede (3. Februar) enthielt über die Reform nur die allgemeine
Andeutung, das Wahlrecht solle frei ausgedehnt werden, ohne das verfassungs¬
mäßige Gleichgewicht zu stören; Tags darauf kündete der Schatzkanzler seine
Vorlage auf den 11. an, vor einem überfüllten Hause hielt er dann an jenem
Abend eine dreistündige Rede, welche alle Welt im Dunkeln über die eigent¬
lichen Absichten der Regierung in der Sache ließ und nur in der Form den
Weg der Resolutionen empfahl. Die Enttäuschung ward noch gesteigert, als
am andern Morgen die Resolutionen bekannt wurden, welche das Ministerium
als Grundlage der künftigen Bill empfahl, sie waren so vag und unklar, daß
niemand sagen konnte, worauf sie abzielten und was die Folge ihrer Annahme
sein würde. Wiederholt ward Herr Disraeli gedrängt die Resolutionen zu
erklären, den luftigen Vorschlägen einen festen Inhalt zu geben oder sie zurück¬
zuziehen und eine ausgearbeitete Bill einzubringen, aber der Schatzkanzler lehnte
alles ab und beantragte, in vierzehn Tagen ins Comite zu gehen, dann werde
er alle wünschenswerthen Erläuterungen geben. Der Zustand war sehr unbe¬
haglich, die Liberalen scheuten sich, noch einen ernsten Angriff zu machen, um
sich nicht dem Vorwurf factiöscr Opposition auszusetzen und sahen doch ein,
daß sie nicht unthätig bleiben konnten. Inzwischen traten Gerüchte auf, daß das
Ministerium selbst sich nicht über die nähere Definition der Resolutionen einigen
könne, und nach Verlauf der vierzehn Tage legte der Schatzkanzler (25. Februar)
dem Hause die Skizze eines neuen Planes vor, der durchaus nicht mit den
früheren Resolutionen stimmte, er schlug vor, das städtische Wahlrecht allen
Hausbesitzern zu geben, welche auf 6 ^ Miethe geschätzt würden, in den Gras-


Grenzvotcn II. 18K7. 46
Die Reformfrage in England.

Die Entwickelung der parlamentarischen Reform ist in der gegenwärtigen
Session so eigenthümlichen Wechselfällen ausgesetzt gewesen, daß es sich jetzt,
wo die ministerielle Bill ihre kritischen Stadien passirt hat, wohl verlohnt, einen
Rückblick zu thun, der zugleich auch eine Perspective für die Zukunft zu eröffnen
geeignet ist.

Die Thronrede (3. Februar) enthielt über die Reform nur die allgemeine
Andeutung, das Wahlrecht solle frei ausgedehnt werden, ohne das verfassungs¬
mäßige Gleichgewicht zu stören; Tags darauf kündete der Schatzkanzler seine
Vorlage auf den 11. an, vor einem überfüllten Hause hielt er dann an jenem
Abend eine dreistündige Rede, welche alle Welt im Dunkeln über die eigent¬
lichen Absichten der Regierung in der Sache ließ und nur in der Form den
Weg der Resolutionen empfahl. Die Enttäuschung ward noch gesteigert, als
am andern Morgen die Resolutionen bekannt wurden, welche das Ministerium
als Grundlage der künftigen Bill empfahl, sie waren so vag und unklar, daß
niemand sagen konnte, worauf sie abzielten und was die Folge ihrer Annahme
sein würde. Wiederholt ward Herr Disraeli gedrängt die Resolutionen zu
erklären, den luftigen Vorschlägen einen festen Inhalt zu geben oder sie zurück¬
zuziehen und eine ausgearbeitete Bill einzubringen, aber der Schatzkanzler lehnte
alles ab und beantragte, in vierzehn Tagen ins Comite zu gehen, dann werde
er alle wünschenswerthen Erläuterungen geben. Der Zustand war sehr unbe¬
haglich, die Liberalen scheuten sich, noch einen ernsten Angriff zu machen, um
sich nicht dem Vorwurf factiöscr Opposition auszusetzen und sahen doch ein,
daß sie nicht unthätig bleiben konnten. Inzwischen traten Gerüchte auf, daß das
Ministerium selbst sich nicht über die nähere Definition der Resolutionen einigen
könne, und nach Verlauf der vierzehn Tage legte der Schatzkanzler (25. Februar)
dem Hause die Skizze eines neuen Planes vor, der durchaus nicht mit den
früheren Resolutionen stimmte, er schlug vor, das städtische Wahlrecht allen
Hausbesitzern zu geben, welche auf 6 ^ Miethe geschätzt würden, in den Gras-


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[0365] Die Reformfrage in England. Die Entwickelung der parlamentarischen Reform ist in der gegenwärtigen Session so eigenthümlichen Wechselfällen ausgesetzt gewesen, daß es sich jetzt, wo die ministerielle Bill ihre kritischen Stadien passirt hat, wohl verlohnt, einen Rückblick zu thun, der zugleich auch eine Perspective für die Zukunft zu eröffnen geeignet ist. Die Thronrede (3. Februar) enthielt über die Reform nur die allgemeine Andeutung, das Wahlrecht solle frei ausgedehnt werden, ohne das verfassungs¬ mäßige Gleichgewicht zu stören; Tags darauf kündete der Schatzkanzler seine Vorlage auf den 11. an, vor einem überfüllten Hause hielt er dann an jenem Abend eine dreistündige Rede, welche alle Welt im Dunkeln über die eigent¬ lichen Absichten der Regierung in der Sache ließ und nur in der Form den Weg der Resolutionen empfahl. Die Enttäuschung ward noch gesteigert, als am andern Morgen die Resolutionen bekannt wurden, welche das Ministerium als Grundlage der künftigen Bill empfahl, sie waren so vag und unklar, daß niemand sagen konnte, worauf sie abzielten und was die Folge ihrer Annahme sein würde. Wiederholt ward Herr Disraeli gedrängt die Resolutionen zu erklären, den luftigen Vorschlägen einen festen Inhalt zu geben oder sie zurück¬ zuziehen und eine ausgearbeitete Bill einzubringen, aber der Schatzkanzler lehnte alles ab und beantragte, in vierzehn Tagen ins Comite zu gehen, dann werde er alle wünschenswerthen Erläuterungen geben. Der Zustand war sehr unbe¬ haglich, die Liberalen scheuten sich, noch einen ernsten Angriff zu machen, um sich nicht dem Vorwurf factiöscr Opposition auszusetzen und sahen doch ein, daß sie nicht unthätig bleiben konnten. Inzwischen traten Gerüchte auf, daß das Ministerium selbst sich nicht über die nähere Definition der Resolutionen einigen könne, und nach Verlauf der vierzehn Tage legte der Schatzkanzler (25. Februar) dem Hause die Skizze eines neuen Planes vor, der durchaus nicht mit den früheren Resolutionen stimmte, er schlug vor, das städtische Wahlrecht allen Hausbesitzern zu geben, welche auf 6 ^ Miethe geschätzt würden, in den Gras- Grenzvotcn II. 18K7. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/365>, abgerufen am 29.06.2024.