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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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Ein Kriegstagebuch aus Nassau,
i.

Seit ich Ihnen meinen Kriegsbrief aus Nassau schrieb. -- seit dem 24. Juni
-- sind vierzehn Tage verflossen, während deren wir in und für Deutschland
mehr erlebt haben, als sonst in einem halben Jahrhundert. Erlauben Sie mir,
daß ich den Faden wieder aufnehme da. wo ich ihn vor vierzehn Tagen fallen
ließ, und daß ich fortfahre in meiner Darstellung, welche nicht eine Kriegs¬
geschichte sein will, sondern ein kleiner Beitrag zur Geschichte der bürgerlichen
Gesellschaft im westlichen Deutschland, wie sie sich verhielt während der Zeit,
in welcher der Krieg mit eisernen Sohlen auf ihr herumtrampelte. Denn auch
diese Geschichte ist lehrreich. Oum iriöminisss ^rivadit.

Vor vierzehn Tagen hatten wir hier noch keinen Krieg. Wir waren in
jenem Uebergangsstadium, von welchem Tegner in seiner Frithjofsage singt:

Jetzt sind wir bereits mitten im Krieg. Leider im traurigsten Sinne des
Worts. Wir haben das Elend des Kriegs, ohne den leisesten Schimmer irgend¬
einer der günstigen Möglichkeiten, weiche den Krieg zu begleiten und seine Lasten
zu erleichtern Pflegen. Wir sehen am Beginn der Campagne schon das Ende,
und dieses Ende zeigt uns jetzt schon mit vollster Deutlichkeit die schimpfliche
Auslösung der Bundestagsarmee, in deren Lexikon das Wort "Sieg" gar nicht
geschrieben steht.

Ich habe die nachfolgenden Blätter im Laufe der letzten zwei Wochen, wie
es Tag und Stunde gab, flüchtig skizzirt, mit dem Vorbehalt, sie demnächst zu
einem gegliederten Ganzen zu verarbeiten und Ihnen dann zu schicken. Allein
ich kann zu einer Stimmung, wie sie zur Sammlung, Sichtung und Umarbei¬
tung gehört, nicht gelangen. Wie man auf See jede Bewegung des Schiffs
mitmachen muß, so geht Einem in dieser verhängnißvollen Zeit jeder Ruck und
jeder Druck und jede Schwingung der weltgeschichtlichen Entwickelung mitten
durchs Herz. Da redigire denn einmal Einer, wenn er so geschaukelt, gerüttelt
und geschüttelt wird. Ich schicke Ihnen daher mein Brouillon. wie es ist. oder,
wie der rheingauer Winzer sagt, wenn er im Herbst seinen Wein gleich schon


Grenzboten III. 18K6. 62
Ein Kriegstagebuch aus Nassau,
i.

Seit ich Ihnen meinen Kriegsbrief aus Nassau schrieb. — seit dem 24. Juni
— sind vierzehn Tage verflossen, während deren wir in und für Deutschland
mehr erlebt haben, als sonst in einem halben Jahrhundert. Erlauben Sie mir,
daß ich den Faden wieder aufnehme da. wo ich ihn vor vierzehn Tagen fallen
ließ, und daß ich fortfahre in meiner Darstellung, welche nicht eine Kriegs¬
geschichte sein will, sondern ein kleiner Beitrag zur Geschichte der bürgerlichen
Gesellschaft im westlichen Deutschland, wie sie sich verhielt während der Zeit,
in welcher der Krieg mit eisernen Sohlen auf ihr herumtrampelte. Denn auch
diese Geschichte ist lehrreich. Oum iriöminisss ^rivadit.

Vor vierzehn Tagen hatten wir hier noch keinen Krieg. Wir waren in
jenem Uebergangsstadium, von welchem Tegner in seiner Frithjofsage singt:

Jetzt sind wir bereits mitten im Krieg. Leider im traurigsten Sinne des
Worts. Wir haben das Elend des Kriegs, ohne den leisesten Schimmer irgend¬
einer der günstigen Möglichkeiten, weiche den Krieg zu begleiten und seine Lasten
zu erleichtern Pflegen. Wir sehen am Beginn der Campagne schon das Ende,
und dieses Ende zeigt uns jetzt schon mit vollster Deutlichkeit die schimpfliche
Auslösung der Bundestagsarmee, in deren Lexikon das Wort „Sieg" gar nicht
geschrieben steht.

Ich habe die nachfolgenden Blätter im Laufe der letzten zwei Wochen, wie
es Tag und Stunde gab, flüchtig skizzirt, mit dem Vorbehalt, sie demnächst zu
einem gegliederten Ganzen zu verarbeiten und Ihnen dann zu schicken. Allein
ich kann zu einer Stimmung, wie sie zur Sammlung, Sichtung und Umarbei¬
tung gehört, nicht gelangen. Wie man auf See jede Bewegung des Schiffs
mitmachen muß, so geht Einem in dieser verhängnißvollen Zeit jeder Ruck und
jeder Druck und jede Schwingung der weltgeschichtlichen Entwickelung mitten
durchs Herz. Da redigire denn einmal Einer, wenn er so geschaukelt, gerüttelt
und geschüttelt wird. Ich schicke Ihnen daher mein Brouillon. wie es ist. oder,
wie der rheingauer Winzer sagt, wenn er im Herbst seinen Wein gleich schon


Grenzboten III. 18K6. 62
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[0523] Ein Kriegstagebuch aus Nassau, i. Seit ich Ihnen meinen Kriegsbrief aus Nassau schrieb. — seit dem 24. Juni — sind vierzehn Tage verflossen, während deren wir in und für Deutschland mehr erlebt haben, als sonst in einem halben Jahrhundert. Erlauben Sie mir, daß ich den Faden wieder aufnehme da. wo ich ihn vor vierzehn Tagen fallen ließ, und daß ich fortfahre in meiner Darstellung, welche nicht eine Kriegs¬ geschichte sein will, sondern ein kleiner Beitrag zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft im westlichen Deutschland, wie sie sich verhielt während der Zeit, in welcher der Krieg mit eisernen Sohlen auf ihr herumtrampelte. Denn auch diese Geschichte ist lehrreich. Oum iriöminisss ^rivadit. Vor vierzehn Tagen hatten wir hier noch keinen Krieg. Wir waren in jenem Uebergangsstadium, von welchem Tegner in seiner Frithjofsage singt: Jetzt sind wir bereits mitten im Krieg. Leider im traurigsten Sinne des Worts. Wir haben das Elend des Kriegs, ohne den leisesten Schimmer irgend¬ einer der günstigen Möglichkeiten, weiche den Krieg zu begleiten und seine Lasten zu erleichtern Pflegen. Wir sehen am Beginn der Campagne schon das Ende, und dieses Ende zeigt uns jetzt schon mit vollster Deutlichkeit die schimpfliche Auslösung der Bundestagsarmee, in deren Lexikon das Wort „Sieg" gar nicht geschrieben steht. Ich habe die nachfolgenden Blätter im Laufe der letzten zwei Wochen, wie es Tag und Stunde gab, flüchtig skizzirt, mit dem Vorbehalt, sie demnächst zu einem gegliederten Ganzen zu verarbeiten und Ihnen dann zu schicken. Allein ich kann zu einer Stimmung, wie sie zur Sammlung, Sichtung und Umarbei¬ tung gehört, nicht gelangen. Wie man auf See jede Bewegung des Schiffs mitmachen muß, so geht Einem in dieser verhängnißvollen Zeit jeder Ruck und jeder Druck und jede Schwingung der weltgeschichtlichen Entwickelung mitten durchs Herz. Da redigire denn einmal Einer, wenn er so geschaukelt, gerüttelt und geschüttelt wird. Ich schicke Ihnen daher mein Brouillon. wie es ist. oder, wie der rheingauer Winzer sagt, wenn er im Herbst seinen Wein gleich schon Grenzboten III. 18K6. 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/523>, abgerufen am 22.07.2024.